Margot Friedländer

»Ihrem Vermächtnis gerecht werden«

Margot Friedländer sel. A. (1921–2025) Foto: picture alliance/dpa

Mit 103 Jahren ist die Berliner Ehrenbürgerin Margot Friedländer am Freitag gestorben. Sie war ein lebender Beweis für die Behauptung, dass man in jedem Alter einen Neuanfang wagen kann. Ihr persönlicher Neuanfang begann im Alter von 88 Jahren.

Und er hatte eine Vorgeschichte. Sie lebte mit ihrem Mann Adolf Friedländer nach dem Krieg in New York. Ihr Mann, ebenso wie sie in Berlin geboren, wollte nach dem Krieg, trotz regelmäßiger jährlicher Reisen nach Europa, nie wieder nach Deutschland und vor allen Dingen nicht nach Berlin zurückkehren, zu groß war der Schmerz. Jahrelang gingen die Einladungen des Berliner Senats zum Besuch der alten Heimat ins Leere, blieben unbeantwortet.

Adolf Friedländer, Geschäftsführer der jüdischen Fortbildungseinrichtung Y in der 92th Street in Manhattan, starb im Jahr 1997. Margot, damals 76 Jahre alt, versuchte indes, soziale Kontakte aufrechtzuerhalten, und belegte einen Kurs in der alten Arbeitsstätte ihres Mannes mit dem Titel »Write your memories«.

Dort lernte sie der junge deutsche, in Amerika lebende Filmemacher Thomas Halaczinsky kennen, der von ihr und ihrem Charme – wie so viele später auch – fasziniert war und sie überredete, eine Einladung des Berliner Senats zum Besuch der alten Heimat anzunehmen.

Sie reisten im Jahre 2003 gemeinsam nach Berlin, und es entstand der großartige Film Don’t call it Heimweh, mit dem später im Berliner Rathaus in Anwesenheit von Iris Berben die jüdischen Filmtage eröffnet wurden.

Bei diesem ersten Besuch nach fast 60 Jahren in Berlin durfte ich im Namen des Senats die jüdische Besuchergruppe begrüßen. Auch ich verfiel der Ausstrahlung der 81-Jährigen, es sollte eine jahrelange Freundschaft entstehen, sonntägliche Anrufe mit der Ansage »Hier spricht die Heimat« folgten.

Ihre Autobiografie Versuche, dein Leben zu machen – die letzten Zeilen ihrer Mutter, bevor sie in Ausschwitz mit ihrem Sohn Ralf 1943 ermordet wird – erschien 2008 im Rowohlt Verlag.

Margot Friedländer kam immer häufiger nach Berlin und Deutschland. Sie las aus ihrem Buch in Schulen und war begeistert von ihrer alten Heimatstadt. In der Folge häuften sich die Besuche in Berlin. Einen nicht ganz ernst gemeinten Anstoß meinerseits »Zieh doch zurück« setzte Margot Friedländer tatsächlich 2010 mit sage und schreibe 88 Jahren in die Tat um, zunächst probeweise für sechs Monate, dann dauerhaft.

Noch im selben Jahr gab ihr der Berliner Innensenator Ehrhart Körting die ihr von den Nazis aberkannte deutsche Staatsbürgerschaft zurück. Zum Erstaunen der Zuhörerschaft bedankte sie sich nicht, sondern sprach die weisen Worte: »Ich habe nur zurückbekommen, was mir gehört hat.«

In allen öffentlichen Ansprachen, Interviews und Diskussionsrunden war ihr Umgang mit der deutschen Sprache erstaunlich, trotz fast 60 Jahren Aufenthalt in den USA und dem durch die Nationalsozialisten verursachten Mangel an schulischer und universitärer Ausbildung.

Sie war eine Menschenfängerin und besaß eine hohe Kommunikationsfähigkeit. Kein Empfang, auf den man Margot Friedländer mitnahm, ohne dass sie nicht am Ende eine Handvoll Visitenkarten mit nach Hause brachte.

Man kann in jedem Alter einen Neuanfang in seinem Leben wagen. Margot Friedländer hat uns bewiesen, dass dies wirklich möglich ist.

Die neuen Kontakte wurden von ihr gepflegt, und der anfänglich kleine Bekannten- und Freundeskreis um sie herum wuchs und wuchs. Später, nach dem Ausscheiden aus der Politik, nahm sie mich mit auf die Empfänge und Partys, zu denen sie eingeladen war.

Man kann in jedem Alter einen Neuanfang in seinem Leben wagen. Margot Friedländer hat uns bewiesen, dass dies wirklich möglich ist.

In den 15 Jahren nach ihrem Umzug hat sie sich neu erfunden, und es wirkt auf uns heute fast wie ein Wunder: Die Holocaust-Überlebende, Näherin und Reiseagentin aus New York startete ihr Leben noch einmal neu. Oder man könnte auch sagen, sie startete so richtig durch.

Sie nutzte ihre Chancen und Fähigkeiten, ihren bis zum Schluss erhaltenen weiblichen, fast jugendlichen Charme, ihr Lächeln, ihre Neugierde auf vor allem junge Menschen.

Welche Karriere hätte diese Frau wohl gemacht, wenn es die Katastrophe des Nationalsozialismus nicht gegeben hätte?

Vom Bundesverdienstkreuz erster Klasse, der Ehrenbürgerwürde der Stadt Berlin bis hin zum Bambi und dem Sonderpreis des Westfälischen Friedens noch in diesem Jahr mit dem Laudator Frank-Walter Steinmeier hat sie alle Preise verliehen bekommen, die unser Land zu vergeben hat. Noch am Freitag sollte sie vom Bundespräsidenten das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik im Schloss Bellevue erhalten. Diese Auszeichnung ist die höchste Anerkennung der Bundesrepublik für die Verdienste um das Gemeinwohl.

Die ehemalige Schneiderin, die gerne Designerin geworden wäre und immer elegant gekleidet war, darauf legte sie stets Wert, erschien in der Juli/August-Ausgabe der deutschen »Vogue« 2024 als Titel-Cover, die daraufhin sofort ausverkauft war.

Sie folgte stets ihrer sich selbst auferlegten Mission, Zeugnis abzulegen von dem, was für uns Nachgeborene fast unvorstellbar ist, und hat dennoch die letzten 15 Lebensjahre in vollen Zügen genossen. Laut eigener Aussage waren es die schönsten ihres Lebens.

Wer sie in ihren Lesungen und Vorträgen insbesondere mit jungen Menschen, erlebt hat, war fasziniert von der Wirkung, die sie auf die Generation der Enkel und Urenkel hatte. Solche Veranstaltungen wurden ihr fast bis zum Schluss nicht zu viel, »diese Arbeit hat mir ein zweites Leben geschenkt«, sagte sie. Und den Zuhörern rief sie zu: »Ich tue es für euch.«

Ihr stetig wiederholter Satz »Ihr sollt die Zeitzeugen sein, die wir nicht mehr lange sein können, es liegt in eurer Hand, dass das nie wieder geschieht, was gewesen ist«, ist ihr Vermächtnis an uns. Ich wünsche mir und hoffe, dass wir ihm gerecht werden können.  

Der Autor ist ehemaliger Staatssekretär für Kultur des Landes Berlin.

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