Michael Jouzefpolski

»Ich wollte sofort wieder zurück«

von Annette Wollenhaupt

Ein Mann und elf Frauen. Wie jeden Mittwochnachmittag steht Michael Jouzefpolski umringt von einem Grüppchen älterer Damen im Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum in Frankfurt am Main. Alle sind bequem gekleidet, an den Füßen tragen sie Turnschläppchen. Wo bis vor einem Jahr die Kinder der Lichtigfeldschule lesen und rechnen lernten, wird heute getanzt.
Michael Jouzefpolski ist 65 und Tanzlehrer. Er trägt eine dunkelblaue Jogginghose und ein Puma-T-Shirt. Über seinem für einen Tänzer erstaunlich sichtbaren Bauch liegt ein breiter Stretchgürtel, wie ihn Frauen in Pettycoatzeiten gern trugen. Der drahtige Mann gibt Anweisungen. Auf Russisch, denn fast alle seine Schülerinnen sind Zuwanderinnen aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie sind aufgeregt, machen mitunter noch Patzer in den Schrittfolgen. Aber sie lachen dabei, freuen sich, etwas Neues zu lernen. Und Michael Jouzefpolski mittendrin, er fühlt sich sichtlich wohl.
Am Rand, auf einem zerkratzten Kinderholzstuhl, hat der Tanzlehrer einige CDs ausgebreitet. Seine Frau Anna, seit 41 Jahren sind sie verheiratet, ist wie jeden Mittwoch mit dabei, legt die passenden Scheiben ein. Hora Hedera, israelische Tanz- musik dringt aus den Lautsprechern.
Ein paar Stunden später sitzt Jouzefpolski in seinem Wohnzimmer im 14. Stock eines Hochhauses in Eschborn. Er holt ein Kistchen mit alten Fotos hervor. Ein junger, gut aussehender Mann in moldawischer Tracht ist auf ihnen zu erkennen, umringt von anderen Tänzern. Er trägt eine weiße Bluse mit bauschigen Ärmeln, Hose, Weste, Kosakenstiefel und eine Lammfellmütze. Die Aufnahme wurde bei einem Sportfest gemacht, in Tiraspol, Jouzefpolskis einstiger Heimatstadt. »Für mich ist sie alles. Ich bin verliebt in diese Stadt, ich träume von ihr.« Aufgewachsen ist er nur mit seiner Mutter und seiner Schwester, die heute in Israel lebt. Der Vater fiel im Krieg, Michael hat ihn nie kennengelernt. Zum Folklore-Tanz kam er über Freunde im Haus. Er war damals 16.
Schnell errang der junge Tänzer, der selber den strengen Boris Reschetnikov zum Lehrer hatte, einen guten Ruf und leitete bereits mit 23 Jahren mehrere Folkloregruppen. Darunter auch ein Tanzensemble der Roten Armee. Er hatte zwei berufliche Standbeine: Er arbeitete als freier Tänzer und war festangestellt im Haus der Kultur in Tiraspol, wo er 30 Jahre lang das Volkskollektiv »Losioara« leitete, eine Gruppe tanzbegeisterter Studenten. Mit seiner Frau hat Michael Jouzefpolski auch Standard getanzt. Und sie tun es heute noch. »Er tanzt nicht, er fliegt«, sagt Anna.
Als junger Mann durfte Michael zu Tourneen ins Ausland reisen. Er war privilegiert, hatte Erfolg. Seine Frau ebenso. Sie arbeitete als Wirtschaftsingenieurin in einer großen Konservenfabrik. Dem Paar ging es gut im zweitärmsten Land Europas. Dennoch entschloss sich die Familie 1995, nach Deutschland auszuwandern. Die erste Station war ein Übergangswohnheim in Hochheim am Main – für Michael ein Schock. »Ich wollte sofort zurückfahren, wurde depressiv.« Seine Frau sagte: »Gut, dann fahr zurück, wir bleiben hier.« Sie wusste, er würde es nicht tun. Dass Michael Jouzefpolski nicht dauerhaft in das ganz große, anfänglich befürchtete Loch fiel, verdankt er wohl hauptsächlich seiner Beschäftigung als Tanzlehrer. Der Tanz hat ihn gerettet und der Umgang mit Menschen, die sich begeistern lassen.
Auch nach zwölf Jahren in Deutschland kann Michael noch kaum Deutsch sprechen. Seine Frau, die kein Problem damit zu haben scheint, wann immer es nötig ist, für ihn zu übersetzen, nimmt es mit Humor. »Ich habe gehört, dass es eine ›Genie-Krankheit‹ gibt«, sagt sie. Genies könnten nur das Eine unglaublich gut, anderes fiele ihnen sehr schwer. Sie selbst lernte Deutsch bereits in der Schule und hat die Sprache, wie sie sagt, »immer schon geliebt«. Michael könnte beruflich weiterkommen, hätte er entsprechende Deutschkenntnisse, davon ist Anna überzeugt. Dann wäre es ihm vermutlich auch möglich, deutsche Erwachsene und Kinder zu unterrichten. Zur Zeit verdient er nur ein paar hundert Euro am Unterricht für Kinder in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Die Seniorentanzgruppe leitet er ehrenamtlich.
Für jede Aufführung schafft der Tanzlehrer eigene fantasievolle Kostüme. Er geht in Billigläden, Asia-Shops, auf Basare, zum griechischen Händler. Kauft gleich im Dutzend Lagerrestbestände auf: Röcke, T-Shirts, Blusen, Söckchen und Schuhe für ein, zwei, drei Euro das Stück. Zu Hause versieht er sie mit Details: mit Pailletten, Paspeln, Ziernähten, Knöpfen, mit Rüschen und Schleifen. Michael Jouzefpolski hatte als Jugendlicher eine Zeit lang in einer Schneiderwerkstatt gelernt. Er holt ein altes großes Kostümbuch hervor mit Zeichnungen traditioneller Trachten aus Russland, Rumänien, dem ehemaligen Jugoslawien und aus anderen Ländern. In zehn Jahren hat er 30 Tänze einstudiert und 30 Kostüme gefertigt, viele nach Original-Vorlagen. Michael Jouzefpolski durchstöbert den Wohnzimmerschrank, holt Medaillen und Urkunden hervor, die von seinen Erfolgen erzählen.
Regelmäßig besucht er Tanzworkshops. Besonders viel geben ihm die Seminare von Tirza Hodes, denn die Grande Dame des israelischen Tanzes gibt immer auch Wissen über jüdische Traditionen und Geschichte weiter. Michael sitzt still auf seinem Stuhl, während seine Frau in ihrer temperamentvollen Art spricht. Er scheint nur noch mit seinem Körper wirklich anwesend zu sein. Er hat eine Videokassette eingelegt, schaut auf den Bildschirm des Fernsehers. Es sind Aufnahmen von seiner Verabschiedung als Tanzlehrer im moldawischen »Haus der Kultur«. Klein und am Bildrand taucht das Datum der Aufzeichnung auf: 31. Mai 1995. Wenn er alleine ist und sich das Video anschaut, weint Michael Jouzefpolski manchmal.

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