Grigori Meller

»Ich vermisse die russische Seele«

von Annette Lübbers

Die Stirn in Falten gelegt, wickelt Grigori Meller sich die Teffilin siebenmal um den Arm und dann dreimal um Hand und Mittelfinger. Auf seinem schütteren Haar trägt der 58-Jährige eine schwarze Kippa. Erst seit wenigen Jahren besitzt er eigene Teffilin. »Geschenk von einer Freundin«, sagt er. Seine Tora musste er in Russland zurücklassen. »Das verbotene Buch war nicht durch den Zoll zu bringen«, sagt er bedauernd.
Grigori Meller ist ein lebhafter Mann. Er war früher Geschichtslehrer, er kann gut erzählen. Oft hält es ihn, wenn er so richtig in Fahrt kommt, nicht mehr auf dem Stuhl. »Manche Juden rauchen an Jom Kippur und gehen am Schabbat sogar einkaufen.« Grigori steht auf und trägt in gebückter Haltung imaginäre Einkaufstaschen durchs Zimmer. Draußen vor dem großen Wohnblock im Wuppertaler Norden prasselt der Regen, dunkle Wolken ziehen am großen Balkonfenster vorüber. Die schweren schwarzen Polstermöbel und die dunkelgrauen Schränke hellen den nasskalten Vormittag nicht auf. In den Wandregalen stehen Gesamtausgaben von Puschkin, Dostojewski und Tolstoi. Lesen ist Grigori Mellers Lieblingsbeschäftigung.
Seine Frau Jelena betritt das Zimmer. Sie trägt ein Tablett mit Kaffee, Keksen und Süßigkeiten. Alexander (20) und Boris (24), die beiden Söhne, setzen sich an den niedrigen Wohnzimmertisch, auf dem sich russische Zeitungen stapeln. Wenn es schwierig wird, helfen ihre Deutschkenntnisse.
Neuneinhalb Jahre ist es her, dass Grigori Meller, seine Frau und die Söhne ihre Heimat Rostow am Don verließen und nach Deutschland auswanderten. Für den Mann mit der schwarzen Hornbrille eine Entscheidung, die er nie bedauert hat. »Ich habe die blutige Geschichte meines Landes studiert. Ich wusste, dass es für Russland keine Hoffnung gibt und deshalb auch keine Chancen für meine Kinder.« Er habe immer schon in einem demokratischen Land leben wollen, sagt er. »Ei- gentlich zog es mich in die Vereinigten Staaten, weil ich dort viele Verwandte habe.« Israel kam als Auswanderungsland für Grigoris Familie nie in Frage. »Dafür gab es viele Gründe. Meine Frau hat Bluthochdruck, das Wetter dort wäre nichts für sie gewesen. Außerdem hätten Boris und Alexander in Israel zum Militär gemusst, das wollte ich nicht.«
Für Deutschland sprachen Grigoris gute Jugenderinnerungen. »Ich war als 24-Jähriger als Soldat in Saalfeld stationiert. Ich habe die Menschen in der DDR als herzlich und hilfsbereit erlebt.« Deutsch hat Grigori damals allerdings nicht gelernt. »Ich konnte nur: ›Halt, ich werde schießen!‹« Mit lebhaften Gesten unterstreicht er seine Worte, manchmal überlegt er, sucht nach dem richtigen Ausdruck. »Mein Vater hat im Zweiten Weltkrieg für Russland gekämpft«, erzählt er. »In der Sowjetunion wurden Juden in der Armee aber kaum befördert. Irgendwie hatte man Angst, dass sie Militärgeheimnisse an Israel verraten könnten.«
Grigoris Frau wiegelt ab: »So schlimm war das Leben in Russland nicht. Man muss doch zwischen der Regierung und den Leuten auf der Straße unterscheiden«, sagt sie. Ihr Mann lächelt: »Meine Frau ist Ingenieurin. Sie ist nicht so politisch«, sagt er lächelnd und erntet sofort lebhaften Widerspruch von ihr. »Ich habe es selbst erlebt«, sagt Grigori und beugt sich in seinem Sessel nach vorne: »1982 habe ich als städtischer Kulturführer in Rostow gearbeitet. Ich habe Schauspieler betreut, die in Rostow eine Premierenfeier hatten. Ich war gegen den Afghanistan-Krieg und habe das auch gesagt. Am nächsten Tag stand der KGB vor meiner Tür.«
Grigori Meller und die Freiheit der Rede. Seine politischen Ansichten brachten ihn schon früh in schwierige Lagen. »Der Direktor meiner Schule warnte mich: Halt ja den Mund.« Doch Meller ließ sich den Mund nur ungern verbieten. »Also sorgte der Direktor dafür, dass ich nur die Unterstufen unterrichtete. Da ging es um römische und griechische Geschichte und nicht um die jüngste Zeit.« Grigori grinst. »Das war klug von meinem Direktor. Sonst hätte er selber großen Ärger bekommen.«
An seine eigene Schulzeit erinnert sich Grigori Meller nicht gern. »Ich war kein glückliches Kind. Die jüdischen Kinder wurden angefeindet, die Lehrer haben uns nicht in Schutz genommen.«
Seine religiösen Unterweisungen bekam der 58-Jährige bereits als Kind von Mutter und Großmutter. »Mein Vater war Atheist, aber meine Großmutter hat die Speisegesetze gehalten. Auch wenn das damals schwierig war. Und mein Großvater war Rabbiner in Chmelnitzki in der Ukraine. Leider starb er schon vor meiner Geburt.«
Das neue Leben im fremden Land ermöglicht es Grigori und seiner Frau, ihr Judentum offen zu leben. Grigoris Söhne haben erst in Deutschland gelernt, was es heißt, Juden zu sein, und sie wurden erst hier beschnitten. Bis vor einigen Jahren ging Grigori mit seiner Familie regelmäßig in die Wuppertaler Synagoge, und eine Zeit lang arbeitete er sogar in der Kultusgemeinde als Hausmeister. Jetzt betet er lieber allein, zu Hause im Wohnzimmer. In der Gemeinde gefällt es ihm nicht mehr so gut. Details will er nicht nennen, aber irgendwie hat es zu tun mit den wechselnden Rabbinern, die er in seinen neuneinhalb Jahren in Wuppertal erlebt hat. Dann rückt Grigori Meller seine Kippa zurecht und sagt: »Die setze ich auf der Straße aber nicht auf. Da gucken zu viele Leute.« Hat er Angst als Jude in Deutschland? Grigori Meller lacht. »Nein. Aber ganz am Anfang hat mir einer von unseren Leuten gesagt: Erzähl ja niemandem, dass du Jude bist.« Bei diesem Satz zieht er die Beine im Sessel an, duckt sich an die Rückenlehne und hält sich die Hände vors Gesicht. Dann sagt er, immer noch lachend: »Meine sowjetischen Mitbürger haben noch immer ein wenig Angst.«
In Wuppertal gefällt es Grigori Meller gut. »Wir sind angekommen im neuen Land. Wir vermissen ein bisschen die russische Seele und unsere Freunde, aber das Land, das vermissen wir nicht«, erklärt Grigori Meller schmunzelnd und lobt die deutsche Demokratie, die gute Luft, das saubere Wasser, die Pressefreiheit.
Allerdings findet er die Deutschen generell ein bisschen zu distanziert. »Mehr als guten Tag sagt man hier oft nicht.« Zu vielen Nachbarn, Juden und Nichtjuden, pflegt die Familie aber freundschaftlichen Kontakt. »In der Nachbarschaft wohnen Kasachen, Kirgisen, Polen, Türken, Griechen, Chinesen, Spanier und Deutsche. Viele haben ein offenes Herz, und bei manchen kann ich nachts um drei klingeln, wenn ich Hilfe brauche.«
Gern hätte Grigori Meller eine Arbeit. »Mit Vergnügen würde ich arbeiten gehen, wenn ich etwas finden könnte«, sagt der 58-Jährige. Ein-Euro-Jobs hat er schon gemacht und auch ein Praktikum in einer Schule für behinderte Kinder. »Das hat mir gefallen«, sagt er. »Aber ich war zu alt und mein Deutsch zu schlecht.«

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