Über wenige andere Autoren gibt es so viele Spekulationen wie über Shakespeare. Ob der Londoner Schauspieler und Theaterbetreiber tatsächlich der Verfasser der 38 Stücke und 154 Sonette war, die unter seinem Namen laufen, wird von manchen bestritten: Für sie ist wahlweise der Dramatiker Christopher Marlowe, der Philosoph Sir Francis Bacon oder Edward de Vere, Graf von Oxford, der wahre Autor.
Spekulationen ranken sich auch um eines von Shakespeares wichtigsten Stücken, den Kaufmann von Venedig, und insbesondere die Figur des Shylock. Nach welchem Vorbild zeichnete Shakespeare seinen jüdischen Wucherer, wo doch zu Lebzeiten des Autors seit Jahrhunderten keine Juden mehr in England lebten? Und ist die Figur nur das antijüdische Zerrbild eines geldgierigen, hartherzigen Christen-hassers, oder der frühe philosemitische Versuch, Juden als Menschen wie andere auch darzustellen (»Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? «).
Jetzt stellt der amerikanische Shake-speare-Forscher Kenneth Gross eine neue These auf: Shylock ist ein Selbstporträt . In der Figur des Juden fand Shakespeare ein Vehikel »seine eigenen Zweifel, seine Begierden und Wut, seine schmerzhafte Einsamkeit zu artikulieren«, schreibt Gross in seiner gerade erschienenen Studie Shylock is Shakespeare. In den gesellschaftlichen Paria Shylock konnte Shakespeare sich deshalb so hervorragend einfühlen, weil Schauspieler zu seiner Zeit ebenso verachtete Außenseiter waren wie die Juden.
Gross interpretiert den Shylock auch neu als groteske komödiantische Figur, deren Textpartien klassische Beispiele schwarzen Humors seien, ganz im Stil der jüdisch-amerikanischen Standup-Comedy. Der ideale Shylock-Darsteller, glaubt der Literaturwissenschaftler, wäre deshalb der aus Filmen von Mel Brooks bekannte, inzwischen verstorbene Komödiant Zero Mostel gewesen. Michael Wuliger
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