Aron Ianovski

»Ich rede Deutsch mit mir«

Von wegen, Altenheime seien langweilig. Ich bin hier sehr beschäftigt. Wenn ich nicht zum Gedächtnistraining erscheine, fragen die anderen, warum ich nicht komme, doch ich habe den ganzen Tag genug Training. Ich wohne im Düsseldorfer Nelly-Sachs-Haus nach meinem eigenen System. In der Früh stehe ich nicht später als 4.15 Uhr auf. Rund vierzig Minuten dauert meine Frühgymnastik. Danach gehe ich duschen, denn ohne die morgendliche Dusche kann ich den Tag nicht beginnen. Dann mache ich das Bett, mein Katheter wird gewechselt, und schon ist Frühstückszeit. Dreimal wöchentlich, am Montag, Mittwoch und Freitag, muss ich zur Dialyse. Um 7 Uhr steige ich in den Bus, der uns zum Nierenzentrum des Evangelischen Krankenhauses fährt. Dort werde ich für viereinhalb Stunden an die Maschine angeschlossen. Ich liege im Bett, zwei Nadeln im Arm, das Blut fließt. Währenddessen sehe ich manchmal fern, oft denke ich aber vor mich hin. Ich denke auf Russisch. Doch zur Übung rede ich in Gedanken mit mir Deutsch. Natürlich nicht laut, sonst glauben die anderen, ich wäre verrückt.
Die Dialyse schränkt mein Leben stark ein. Mein Arm wurde gerade operiert, weil meine Gefäße durch die vielen Nadelstiche stark gelitten haben. Deshalb muss ich mich jetzt schonen. Seit über einem Jahr habe ich diese Krankheit. Nach der Diagnose wusste ich nicht, wie es weitergehen soll. Es gab Tage voll schlimmer Gedanken. Meine Tochter, die Enkelin, die Familie erzählten mir von anderen Menschen, bei denen das Leben auch weiterging, das half mir sehr.
Seit Herbst 1993 sind wir in Deutschland. Wir kamen aus der Sowjetunion und waren nur zu Besuch hier. Tagelang haben wir überlegt und uns letztendlich entschlossen zu bleiben. Leider ist meine Frau vor zwei Jahren gestorben, wir waren 56 Jahre verheiratet. Zum Glück aber lebt ganz in der Nähe meine Tochter mit ihrem Mann. Mein Sohn ist in Russland geblieben. Meine Tochter ist Lehrerin, sie unterrichtet in Düsseldorf und in Kempen, das liegt von uns aus hinter Krefeld. Durch sie haben wir heute viele Bekannte in der christlich-jüdischen Gesellschaft. Meine älteste Enkelin ist 32 Jahre alt, sie ging in der Sowjetunion bis zur 8. Klasse in die Schule. Hier in Deutschland hat sie studiert, in Heidelberg. Jetzt hat sie einen Doktortitel in Philosophie und Geschichte und lebt in Frankfurt am Main. Meine jüngere Enkelin ist 23, sie wohnt in Düsseldorf und studiert in Bochum Sozialpädagogik. Sie ist im Gemeinderat der Jüdischen Gemeinde. Ich bin sehr stolz auf meine Familie und auf das, was sie hier in Deutschland erreicht hat, denn der Weg war weit.
Geboren bin ich 1928 in Nemirov in der Ukraine. Meine Muttersprachen sind Ukrainisch und Jiddisch, nicht Russisch. Bis zu meinem 13. Lebensjahr ging ich in die ukrainische Schule, dort wurde Russisch quasi als Fremdsprache unterrichtet. In unserem Ort lebten 15.000 Juden und 7.000 Christen, darunter Ukrainer, Russen und Polen. Es wurde viel Jiddisch gesprochen. Die Sprache besteht zu 40 Prozent aus Hebräisch, zu 40 Prozent aus Altdeutsch, und die restlichen 20 Prozent hängen von der Umgebung ab, in der man lebt. Es gibt folgenden Witz: »Welche Sprache ist die beste?« – »Jiddisch, denn jeder versteht’s!«
Im Jahre 1941, als die deutschen Truppen auf dem Vormarsch waren, flohen wir aus eigenem Entschluss mit der gesamten Familie nach Sibirien und blieben bis 1945. Wir lebten dort im Altai-Gebiet, im westlichen Teil des Landes. Das Leben war sehr hart. Die Schwester meiner Mutter arbeitete als Lehrerin in der Schule. Sie erhielt monatlich 400 Rubel – ein Kilo Brot kostete 600 Rubel. Zum Glück bekam sie auf dem Schwarzmarkt zehn Kilo Mehl, das half uns zu überleben. Meine Mutter arbeitete als Putzfrau in einem Kindergarten, als Lohn gab es Essen für sie. Ansonsten bestand unsere Nahrung aus Gras, Beeren und Pilzen. An Zucker und Fleisch war nicht zu denken. In Sibirien sprachen wir nur noch Russisch. Mein Vater ist 1942 im Krieg gegen Deutschland gefallen.
Als der Krieg zu Ende war, gingen wir in unsere Heimat zurück, doch es waren nur noch ein paar Hundert Juden da. Die anderen hatte man umgebracht in den Lagern in Transnistrien und wer weiß nicht wo.
In der Sowjetunion bin ich als Atheist aufgewachsen. Ich studierte ab 1948 an der Universität Kiew Philosophie und Psychologie. Da habe ich gemerkt, dass die Kommunisten die Juden hassen. An allem waren die Juden schuld. Wenn es im Geschäft kein Brot gab, wer war schuld? Die Juden! Nur sie sind schuld! So ging das die ganze Zeit. Im Jahre 1953 habe ich mein Studium beendet. Nun war es ja nicht so, dass man sich eine Stelle aussuchen konnte, sondern sie wurde einem zugewiesen. Ich wurde Lehrer für Geschichte, Chemie und Physik, obwohl ich diese Fächer nicht studiert hatte. Meine Frau war übrigens auch Lehrerin. Später erhielt ich die Beförderung zum Direktor einer Dorfschule, und nach einer Weile war ich sogar Kreisdirektor und Inspektor. Trotzdem habe ich auch weiter unterrichtet.
Ja, die Erinnerungen kommen zurück. Und auch bei meinem täglichen Spaziergang arbeitet der Kopf. Wenn ich an unsere Zeit in Russland denke und sie mit der heutigen Situation vergleiche, stelle ich fest: In Deutschland hat man eine Demokratie. In Russland spricht man zwar davon, aber sie existiert nicht. In Russland haben die Reichen alle Rechte.
Es gibt mehr schlechte als gute Menschen auf der Welt. Was ist ein guter Mensch? Jemand mit Herz. Das ist meine Meinung. Ich habe in unserem Haus kürzlich eine Diskussion mit dem Thema »Warum leben wir?« organisiert. Da waren viele Anwesende erst einmal sprachlos. Es entstand dann doch eine interessante Diskussion. Man muss sehr vorsichtig sein, wenn man mit Leuten spricht. Respekt ist wichtig. Manche Menschen sind einsam, andere sind aktiv, das prägt. Mein Credo ist einfach: Jeden Tag eine gute Tat. Die Zeit nutzen. Jeder Tag, an dem du nichts machst, ist ein verlorener Tag.
Aber nicht alles geht nach Plan. Dichten nach Plan zum Beispiel geht gar nicht. Mittlerweile bin ich für meine Gedichte bekannt. Leser fragen oft: »Sind Sie Profidichter?« Meine Texte haben häufig moralische Themen, sie spiegeln meine Meinung wider. Zum Beispiel habe ich eine Reihe von Gedichten mit dem Titel »Unsere Porträts« geschrieben, über Bewohner und Angestellte unseres Altenheims. Ich habe sie ihnen gewidmet. Auch der Krankenschwester im Dialysezentrum habe ich ein Gedicht geschrieben. Sie bat mich darum. Die Texte schreibe ich natürlich auf Deutsch. Was für eine Entwicklung! Als ich nach Deutschland kam, verstand ich kein Wort. Zum Beispiel hörte ich bei der Verabschiedung immer das Wort »Tschüss« und fragte mich, was das wohl heiße.
Andere Diskussionsrunden, die ich organisiere, haben die Themen »Wir sind Juden«, »Jüdische Witze und Anekdoten«, »Stunde der Lyrik«, oder einmal war es eine Poesiestunde »Nur über Frauen«. So habe ich den ganzen Tag zu tun und muss aufpassen, dass ich das Mittagessen um 12.30 Uhr und das Abendessen um 18 Uhr nicht verpasse. Freitags um 17.30 Uhr haben wir Gottesdienst hier im Haus. Früher habe ich nicht einmal gewusst, was »koscher« heißt. Und heute bedeutet mir das Judentum so viel. Ich bin froh, hier zu leben, besonders wenn ich auf die Fotos von meinen Kindern schaue, die überall an meinen Wänden hängen.

Aufgezeichnet von Frank Rothert

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