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»Ich möchte nicht mehr weg von hier«

von André Paul

Anatolie Oratovschi hat einen Traum. »Wenn mein Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft endlich genehmigt ist, dann lasse ich sofort meinen Namen ändern – in Anatol Oratovski, wie ich tatsächlich heiße!« Die Augen des kleinen, untersetzten 44jährigen leuchten. Die geänder- ten Buchstaben im Paß spiegeln seine Lebensgeschichte wider, die ihn von Moldau nach Deutschland führte.
Anfang der 90er Jahre herrschen chaotische Zustände in dem kleinen, am Rand des Balkan gelegenen Land Moldau, der ehemaligen Sowjetrepublik Moldawien. Stalins Politik des rücksichtslosen Umsiedelns ganzer Völker hat einen hohen Preis gekostet. Unter den Moldawiern, endlich unabhängig vom verhaßten Moskau, brodelt ein neuer Nationalismus. Die zahlreichen Russen im Land, die besonders rund um die Stadt Tiraspol leben, reagieren mit Ablehnung, Angst und Wut. Gewalt und Proteste gehören zum Alltag. »Und schuld waren natürlich mal wieder die Juden.« Anatolie Oratovschi sagt das ohne Zynismus, ohne Bitternis. Ein nüchternes Analysieren des Befundes, wie es eben so zur Natur eines Arztes gehört.
Damals, Anfang der 90er, war Oratovschi knapp 30 und konnte schon auf eine beeindruckende medizinische Karriere zurückblicken. Vom Assistenzarzt hatte er sich hochgearbeitet zum Leiter einer ambulanten Poliklinik. Nun stand der nächste Karriereschritt an: Er sollte Leiter der neurologischen Abteilung in einem großen Krankenhaus werden. Das staatlich finanzierte Gesundheitswesen der Sowjetunion stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor dem Kollaps. »Da meldete sich plötzlich in einer Dienstbesprechung ein russischstämmiger Arzt zu Wort, mit dem ich lange Zeit gut zusammengearbeitet hatte, und fragte, wie lange man angesichts der schlimmen Zustände noch Geduld haben müsse mit dem schädlichen Wirken der Juden.« Oratovschi, der sich bisher bequem auf die Sofalehne stützte, sitzt nun kerzengerade. Als wolle er auch in der Erinnerung eine Art physische Distanz schaffen zu dem Kollegen von einst, der ihn so enttäuscht hat.
In einer Hinsicht hatte der russische Mediziner allerdings recht: Die Zustände im Land waren inzwischen unerträglich geworden. Unter dem Namen Transnistrien hatte sich ein Teil des Landes unter einem pro-russischen Regime von Moldau abgespalten – bis heute ist dieser Staat allerdings international nicht anerkannt. »Die neue Regierung war völlig überfordert«, erinnert sich der Arzt, »das Sagen auf den Straßen hatte die Mafia.« Eines Morgens, Oratovschi wollte gerade zum Auto gehen, um zur Arbeit zu fahren, war der Wagen plötzlich weg. Stunden später dann die kurze, dreiste Nachricht der Diebe: Er möge doch eine Summe X zahlen, dann erhalte er seinen Wagen zurück.
»Ich habe die Stadt Tiraspol, in der wir damals lebten, wirklich gemocht«, sagt Oratovschi wehmütig. Sie sei von der Art, wie er Städte mag: »Groß genug, um alle urbanen Annehmlichkeiten zu haben, aber so klein, daß man sich noch untereinander kennt und sich nicht verloren vorkommt.« Doch er habe für seine Familie und sich dort keine Zukunft mehr gesehen, sagt er. Die Familie, das waren zu diesem Zeitpunkt neben seiner Frau Elena – sie ist heute 37 – noch der 1990 geborene Sohn Boris, Anatolies Eltern und die Schwester mit ihrer Familie.
Der Familienrat tagt, bald ist die Ausreise beschlossene Sache. Nur das Wohin wird ernsthaft erörtert. »Wir haben über Israel nachgedacht, aber bald war uns klar, daß wir nach Deutschland gehen müssen. Kulturell sind wir eben Europäer.« Oratovschi macht eine Pause und lächelt, als wolle er um Verzeihung bitten. »Israel«, sagt er, »so gern ich das Land habe, es ist doch schon Orient. Nicht das richtige für uns.« Außerdem habe er sich nie im Leben vorstellen können, ohne seine Eltern irgendwohin zu gehen. Aber für sie wäre das extrem heiße Klima im Nahen Osten auf Dauer unerträglich gewesen. Die Ausreise muß dann sehr schnell gehen. In den Pässen der Familie bleiben die Namen in der falschen Schreibweise, wie von den Behörden vor Ort gewünscht.
1997 verlassen Anatolie und seine Familie die Republik Moldau. Nach Zwischen-stationen in Frankfurt und im Aufnahmelager bei Meerane gelangen sie schließlich nach Chemnitz. Sein Traum jedoch sei Leipzig gewesen, sagt er. Im dortigen Universitätsklinikum hätte er für sich als Neurologen eine gute Perspektive erhofft. Doch das Leben hatte einen anderen Plan: Eine zeitweilige, aber lebensbedrohliche Erkrankung des Vaters gab den Ausschlag für Chemnitz. »Wir wußten nicht, wie lang er noch leben wird, wollten deshalb schnell in eine eigene Wohnung ziehen, damit die Familie ein stabiles Umfeld hat.«
Dann hört Anatolie Oratovschi, daß im Krankenhaus der erzgebirgischen Kleinstadt Zschopau Bedarf an Medizinern bestehe. »Ich bewarb mich zunächst für ein einjähriges Anerkennungspraktikum.« Der Satz, leicht dahin gesagt, wirkt nach, denn immerhin war es kein Student, der da anklopfte, sondern ein gestandener Arzt mit mehr als zehn Jahren Berufserfahrung. Unterstützt wurde er in dieser Zeit von der Otto-Bennecke-Stiftung. »Das war zwar nicht viel mehr als Sozialhilfe«, verrät Oratovschi, »aber doch ein riesengroßer Unterschied.« Und wieder leuchten seine Augen. Es sei eben ein ganz anderes Gefühl, früh zur Arbeit zu gehen, statt einfach nur daheim zu sitzen.
Mit seiner Frau schließt er einen ungeschriebenen Vertrag: »Fünf Jahre wollte ich mir Zeit geben, wieder vollständig in meinem Beruf Fuß zu fassen. Sollte das nicht gelingen, dann wollte ich umsatteln auf eine neue Tätigkeit.«
Doch dies sollte nicht notwendig sein. Denn die Zschopauer erkennen den Wert ihrer neuen Kraft. Nach dem Praktikum folgte eine halbe, dann eine dreiviertel und schließlich eine ganze Stelle. »Schritt für Schritt«, sagt Anatolie und lacht beinahe ein wenig schelmisch. Sein Pluspunkt war, daß er parallel eine Weiterbildung zum Psychiater und Psychotherapeuten machte und diese mit seiner neurologischen Facharztausbildung kombinieren konnte. »Während dieses Kurses habe ich auch meinen besten Freund kennengelernt, Torsten. Wir haben uns gemeinsam durch das Examen geholfen. Neben meiner Frau habe ich zu niemandem auf der Welt mehr Vertrauen, und niemand kennt mich besser.«
Also scheint ja alles wunderbar zu laufen bei Familie Oratovschi: Ein guter Job, die Eltern und die Schwester leben in der Nachbarschaft, vor zwei Jahren haben sie mit Nesthäkchen Ben noch mal Nachwuchs bekommen, und der große Sohn ist Fan vom Zweitligisten FC Erzgebirge Aue. Besser kann man kaum integriert sein. Anatolie Oratovschi richtet sich in seinem Sofa ein zweites Mal kerzengerade auf. »Bitte denken Sie nicht, daß bei uns alles glatt lief, oh nein. Ich erhielt viele Ablehnungen und Rückschläge.« Die Zuversicht, die er ausstrahlt, habe mit seinem Beruf zu tun, sagt er. Gegenüber den Kranken muß er immer ruhig und gelassen bleiben.
»Ich möchte nicht mehr weg aus Chemnitz, hier fühle ich mich wohl«, sagt Anatolie. Anders als in der alten Heimat Tiraspol geht er nun auch öfters zum Gottesdienst, auch wenn er, wie er sagt, kein frommer Mensch geworden sei. Bei ihm und bei seinem Vater sei durch die Sowjetzeit die Verbindung zum Judentum wenn auch nicht abgebrochen, so doch beeinträchtigt. Aber sein Ältester, der 16jährige Boris, der besuche viele Veranstaltungen in der Synagoge. Und er spreche hebräisch. So, daß einem das Herz warm werde. »Mein Großvater war ein frommer Mann«, sagt Anatolie Oratovschi, »und dank Boris wird das religiöse Band in unserer Familie nun nach zwei Generationen wieder gestärkt.«

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