zuwanderer

»Ich kann nicht ohne Anton leben«

von Christine Schmitt

Frankreich, Italien, Belgien, Portugal. Flaggen aller europäischen Länder sind übers Zimmer verteilt. Anton ist stolz auf seine Sammlung. Aufgeregt zeigt er seine Lieblingsfahnen: Es sind die griechische und die der Schweiz – die sind größer und hängen an einem Schrank. »Ich war schon mal dort, mit der ›Lebenshilfe‹«, sagt er und strahlt beim Gedanken an die Reisen. Handball-Fan ist er, aber gerne würde er auch ein WM-Fußballspiel sehen, sagt er. Ein charmantes Lächeln huscht über sein Gesicht. Langsam und etwas steif macht er einen Schritt auf die kahle Wand der Ein-Zimmer-Wohnung zu, an der zwei Medaillen hängen. Beide hat er beim Internationalen Straßenlauf in Düsseldorf gewonnen, mit seiner Mannschaft von der Werkstatt für angepaßte Arbeit der »Lebenshilfe«. Auch seine Heimorgel möchte der 33jährige der Besucherin vorführen. Er spielt so gern darauf, am liebsten deutsche Volkslieder und Rockmusik. »Ich höre nur deutsche Musik«, sagt er. Und das, obwohl er ein echter Moskauer ist. Anton findet Düsseldorf viel besser als seine Geburtstadt, er ist gerne hier. In seiner Heimat hatte er weder Arbeit noch Freunde.
Damit es Anton gut geht, mußte Valery Gladilin sein Leben komplett ändern. Der Journalist reiste 1990 nach Deutschland, um für eine Jugendsendung einen Film über das Leben von behinderten Menschen in Deutschland zu drehen. »Ich hatte keine Tränen, aber ich habe geweint.« Er sah hier etwas, das in Rußland fast undenkbar ist: Behinderte Menschen sind integriert, können in Schulen lernen, in speziellen Werkstätten arbeiten und sind in Heimen gut aufgehoben. Sie leben nicht isoliert mit ihrer Familie nur in den eigenen vier Wänden, wie es in Rußland üblich ist. Damals wuchs in Valery Gladilin die Idee, daß Deutschland vielleicht der richtige Ort sein könnte für seinen behinderten Sohn.
Als Anton vor 33 Jahren auf die Welt kam, sagten die Ärzte und Schwestern zu den Eltern: »Verabschieden Sie sich von ihm, er hat keine Chance auf ein gesundes Leben.« Und noch schlimmer: Er werde erfahrungsgemäß nicht lange leben. »Geben Sie ihn in ein Heim«, hieß es. Das kam für Valery und seine Frau überhaupt nicht in Frage. Ihr Sohn war ein Frühchen und kam schon im siebten Schwangerschaftsmonat auf die Welt. Bei der Geburt wurde das Gehirn nicht genügend mit Sauerstoff versorgt und geschädigt.
»Anton war ein unruhiges Baby. Er schrie viel und war Tag und Nacht wach«, erinnert sich sein Vater. Schließlich habe er ein Geburtstrauma verarbeiten müssen, sagt der Vater verständnisvoll. Erst mit drei Jahren fing Anton an zu laufen. Zu sprechen begann er noch später. Als er sechs Jahre alt war, bekam er zum ersten Mal epileptische Anfälle, die mit Medikamenten behandelt wurden. Da es in Moskau keine Sonderschule für ihn gab, besuchte er eine normale Grundschule. »Die Lehrerin war großartig und hatte viel Verständnis für ihn. Und sie konnte das auch den anderen Kindern vermitteln: Die gingen immer liebevoll mit ihm um.« Von den Prüfungen war Anton befreit.
Doch es kamen schlechtere Zeiten. Als Anton 11 Jahre alt war, starb seine Mutter. Schüler aus anderen Klassen drohten ihm Schläge an. Er wurde immer einsamer, kaum einer wollte mit ihm befreundet sein.
Noch heute ist Valery Gladilin immer wieder überrascht, was sein Sohn so alles weiß. Aber er sieht auch die Probleme, die die Behinderung mit sich bringt. Anton habe überhaupt keinen Bezug zu Geld, er weiß nicht, was er mit den Münzen und Scheinen tun soll. »Er lebt in einer anderen eigenen Welt.« Der 33jährige spielt am liebsten mit Aliens-Figuren. Filme anschauen kann er nicht, es fällt ihm zu schwer, die Handlung nachzuvollziehen. Bücher zu lesen ist auf Dauer zu anstrengend für ihn. Langes Sitzen – unmöglich. Anton akzeptiert seine Behinderung. Aber die Einsamkeit macht dem jungen Mann zu schaffen. Trotzdem sei es in Deutschland allemal besser, weil er in seiner Werkstatt doch einige Kontakte zu anderen hat, sagt der Vater. Und glücklicherweise trauten sich hier auch die Ärzte, Anton an seinen Augen zu operieren. Vorher hatte er 16 Dioptrien, jetzt nur noch zwei.
Für Valery Gladilin war es ein harter Schritt, nach Deutschland auszuwandern. In Moskau arbeitete er als Redakteur für Kinder- und Jugendsendungen, die in Rußland jeder kannte, wie »bis 16 und älter« – vergleichbar mit der Sendung mit der Maus – »Poka use doma« und »Umniki i umnici«.
Während Anton kurz vor sieben Uhr von einem Behinderten-Fahrdienst abgeholt wird und zur Werkstatt gefahren wird, wo er Speichen in die Laufräder aufzieht, hat sein Vater viel Leerlauf. Der heute 66jährige hoffte anfangs noch, daß er weiter fürs Fernsehen arbeiten könnte. Aber ohne deutsche Sprachkenntnisse war er hier als Journalist aufgeschmissen. Vor zehn Jahren kam er als Kontingentflüchtling nach Deutschland, einige Monate später reiste Anton mit einer Tante nach. »In Moskau hatte Anton keine Perspektive, in Deutschland hatte ich keine«, faßt Valery zusammen.
Doch im vergangenen Jahr hat sich der ehemalige Journalist wieder etwas vorgenommen: Er möchte eine Selbsthilfegruppe für Menschen wie ihn und Anton gründen. Oft hat er von anderen Zuwanderern gehört, in Deutschland sei es nicht besser als in der ehemaligen Sowjetunion. Valery Gladilin fragt dann gerne nach. Er hat festgestellt, daß sich die meisten nicht auskennen und auch nicht beraten wurden. »Viele wissen nicht, wo es Werkstätten für Behinderte gibt und daß pflegende Angehörige Anspruch auf Pflegegeld haben.« Deshalb sucht er Betroffene und gab auch eine Anzeige im Gemeindeblatt auf. »Die Resonanz war gewaltig.« Viele riefen ihn an, es gab etliche mehrstündige Telefonate, in denen Informationen und Erfahrungen ausgetauscht wurden. Fast alle Angehörigen von Behinderten sprechen noch kein Deutsch. »Weil sie ihr Kind nicht alleinlassen möchten, können sie keinen Sprachkurs besuchen« sagt Gladilin. Deshalb vereinsamen auch die Angehörigen. Valerys Erfahrung aus Moskau ist, daß Familien mit »normalen« Kindern nicht gern mit ihnen zusammensein wollten. »Wenn man in Rußland ein behindertes Kind bekommt, dann ist das Leben vorbei.« In Deutschland ginge bei der gleichen Ausgangslage das Leben weiter. Mit so einer Selbsthilfegruppe könnte man zeigen, daß man nicht allein dasteht. »Alle kämpfen allein, aber zusammen erreicht man viel mehr.«
Aber die Deutschen seien auch bereit, ihre besonderen Kinder loszulassen und in betreute Wohngemeinschaften oder in Heime zu geben, hat Valery Gladilin beobachtet. Das sei für die meisten Russen undenkbar. Heim heißt dort: Abgeschoben. Auch eine alte, kranke Mutter würde er dort nicht in eine Einrichtung geben.
Aber welche Entscheidung ist die richtige? Valery Gladilin zuckt ratlos mit den Achseln. Eine Sozialarbeiterin habe auf ihn und Anton eingeredet, daß der 33jährige im Heim besser aufgehoben wäre. Daraufhin haben sie sich verschiedene Einrichtungen angeschaut. Zwei waren furchtbar, eine gefiel beiden, aber Anton habe dort keinen Platz bekommen. »Niemand kann sich so kümmern wie die Familie«, ist Valery überzeugt. Wenn Anton in einem Heim leben würde und Sorgen hätte, wie sollte er das jemanden mit seinem geringen deutschen Wortschatz erklären? Es gibt ja dort keine Mitarbeiter, die Russisch sprechen. Und eine christliche Einrichtung – das könne er sich auch nicht vorstellen. Aber ein jüdisch geprägtes Heim beispielsweise in Frankfurt würde auch nicht helfen. »Ich kann ja nicht ständig hinfahren, um meinen Sohn zu sehen.« Dennoch hofft er, daß bald eines eingerichtet wird, für andere.
»Ich kann nicht ohne Anton leben – und er kann nicht ohne mich leben. So bleiben wir zusammen, bis ich keine Kraft mehr habe.«

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