zuwanderer

»Ich hoffte auf eine Anstellung«

von Benjamin Hammer

Wie der Wohnort eines Professors sieht es hier nicht aus. Der Bonner Ortsteil Röttgen ist ein Dorf. Es gibt Kühe, Felder, ab und zu fährt ein Traktor vorbei. Der Supermarkt ist leer, die Kassiererin liest Zeitung. Doch hier wohnt Jewgeni Grinstein, Medizin-Professor aus St. Petersburg.
Grinstein ist 73 Jahre alt, hat tiefe Falten im Gesicht und Herzprobleme. Und doch macht er einen schwierigen Job in der Synagogengemeinde Bonn. Der ehemalige Chirurg leitet die Chewra Kadischa, die Begräbnisbruderschaft. Zusammen mit drei Männern und drei Frauen beerdigt er die verstorbenen Gemeindemitglieder. Die Freiwilligen der Chewra Kadischa waschen den Leichnam, nähen ein Hemd und ziehen es dem Toten an. Eine schwere Arbeit sei das, sagt Grinstein. »Oft liegt da ein Mensch, mit dem ich erst vor ein paar Tagen in der Synagoge gesprochen habe.«
Es ist kein Zufall, daß man Jewgeni Grinstein mit der Aufgabe betraut hat. Auf der einen Seite ist er ein sanfter Mann, spricht bedächtig und mit heller Stimme. Auf der anderen Seite hat er, so traurig das klingt, in seinem Leben schon genug Tote gesehen, um diese Arbeit tun zu können.
Jewgini Grinstein kam 1933 in Minsk auf die Welt. Es war keine gute Zeit, um geboren zu werden, es war die Zeit Hitlers und Stalins. Als Jewgeni vier Jahre alt war, wurde sein Vater, ein Kaufmann, von Stalinisten erschossen. Ein Kollege hatte ihn angeschwärzt, er sei gegen das Regime. Bis Jewgeni Grinstein Student war, verheimlichte seine Mutter ihm die Wahrheit über den Tod des Vaters. Sie sagte, er sei in einem Krieg gefallen. »Sie hatte die ganze Zeit Angst, daß auch wir abgeholt werden«, sagt Grinstein. Der 73jährige hält kurz inne, seine Augen sind feucht geworden. Ob er eine Pause machen möchte? »Nein«, sagt er und lächelt. »Ich bin doch Chirurg.«
Im Sommer 1941 kamen die Deutschen nach Rußland, »so furchtbar schnell«, sagt Grinstein. Minsk brannte bereits, doch Jewgeni war bei seiner Mutter in einem Pionierlager, sie arbeitete dort als Ärztin. Mit rund 1.000 Kindern flüchteten die beiden zu Fuß in Richtung Osten. Sie übernachteten auf dem Erdboden, bis zur nächsten Bahnstation waren es 150 Kilometer. Doch immer wieder kamen deutsche Kampfflugzeuge und feuerten mit Bordgeschützen auf die Flüchtlinge. »Ich habe viele Tote gesehen«, sagt Grinstein.
Irgendwie schafften es die beiden nach St. Petersburg und von dort nach Pensa. Die Stadt liegt 800 Kilometer östlich von Moskau und war damit weit entfernt von den deutschen Truppen. In Pensa ging Jewgeni zur Schule, hier studierte er Medizin und hier lernte er seine Frau Galina kennen. Wie aber wurde aus ihm ein angesehener Professor in St. Petersburg? »Das war ein harter Weg«, sagt der Chirurg. Seine ersten Bewerbungen als Arzt waren schwierig. Immer habe er sein Diplom vorgelegt, und immer sei die Frage gekommen, ob Grinstein ein deutscher Name sei. »Nein, ich bin Jude«, habe er geantwortet. Viele Stellen seien dann plötzlich nicht mehr frei gewesen. Grinstein biß sich dennoch durch, arbeitete in verschiedenen Städten und wurde 1967 Arzt und Dozent an der Universität in St. Petersburg. Sein Chef rief die Parteigenossen in Moskau an. »Dieser Jude arbeitet sehr gut«, habe er denen gesagt. Und so wurde Jewgeni Grinstein Professor an einer Reha-Klinik für Körperbehinderte.
Als Professor mußte er Mitglied der Kommunistischen Partei werden. »In meinem Herzen war ich gegen die Partei, aber nach außen mußte ich dafür sein«, sagt er. »Nur mit zwei, drei Freunden konnten wir Wodka trinken und sagen, was wir wirklich dachten.« Grinsteins Frau Galina brachte 1963 einen Jungen zur Welt. »Papa, war Stalin eigentlich gut?«, habe der irgendwann gefragt. »Lange habe ich aus Angst gelogen und gesagt, daß er ein toller Mann war«, erinnert sich Grinstein. »Das Lügen machte ein bißchen meschugge, aber meine Arbeit war eine gute Medizin.«
Wenn Grinstein solche Sätze sagt, dann fällt auf, wie schön sein Deutsch ist. Und das, obwohl er erst mit 62 Jahren nach Deutschland kam. 1995 war das, Grinstein und seine Frau wollten nicht länger in Rußland leben. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sei das Leben schwerer geworden, sagt Jewgeni. Bei der Morgenbesprechung im Krankenhaus habe er gesehen, daß seine Mitarbeiter hungerten. Monatelang seien keine Gehälter mehr bezahlt worden. Irgendwann tauchten erste Hakenkreuzzeichnungen in der Stadt auf. »In der Sowjetunion gab es so was nicht«, sagt Grinstein. Ob er keine Bedenken hatte, als Jude nach Deutschland auszuwandern? »Nein«, sagt er, in St. Petersburg habe er viele Wissenschaftler aus Deutschland empfangen. »Das waren ganz andere Leute als die Nazis.«
Am Rande von Bonn, dort, wo die Traktoren fahren, hat Grinstein eine schöne Wohnung und ein großes Bücherregal. Darin steht auch die russische Ausgabe von Russendisko, dem Erfolgsroman des Berliner Schriftstellers Wladimir Kaminer. Ein 73jähriger liest ein Buch vom neuen Berlin, vom Nachtleben, in das er sich bestimmt nicht mehr stürzt. »Ich verstehe die jungen Leute«, meint Grinstein. Vor einigen Jahren im Deutschkurs bei der Volkshochschule war er der einzige ältere Teilnehmer. Mit zehn jungen muslimischen Frauen habe er dort gesessen. Als er von der Lehrerin gefragt wurde, was er über Homosexuelle denke, war sein Deutsch zwar nicht perfekt, aber die Antwort klar. Grinstein legte los mit einem Plädoyer für Toleranz gegenüber anderen Lebensformen. »Die streng gläubigen Muslima haben die Köpfe geschüttelt.«
Als Jewgeni Grinstein vor elf Jahren nach Deutschland kam, hoffte er noch auf eine Anstellung an der Bonner Universität. Als daraus nichts wurde, ging Grinstein in die jüdische Gemeinde und fragte: »Was kann ich tun?« Man sagte zu ihm: »Du bist Arzt, du hast keine Angst vor Toten.« So entstand die Chewra Kadischa. Der ehemalige Professor hat Mitstreiter gefunden. Zu siebt sorgen sie für die Beerdigung der Juden in Bonn. »Wir beten für die Leute auf hebräisch«, sagt Grinstein. »Vielleicht mit Fehlern, aber wir kennen die Leute und machen das von ganzem Herzen.« Manche der männlichen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion sind nicht beschnitten. Damit die Toten jüdisch beerdigt werden können, holt der Chirurg das vor der Bestattung nach.
Früher war Jewgeni Grinstein kein frommer Mann. In der Sowjetunion erzählte er kaum jemandem, daß er Jude ist, zu groß war die Angst, daß er seinen Job verlieren würde. In Deutschland ist das anders. Seine Arbeit bei der Chewra Kadischa hat ihn näher zum Judentum gebracht. Jetzt träumt er von einem schönen neuen Friedhof für die Gemeinde, denn der alte Friedhof ist überfüllt, und es gibt derzeit nur ein provisorisches Gräberfeld. »Bei den Christen werden die Gräber nach 30 Jahren umgepflügt«, sagt Grinstein. »Jüdische Gräber soll es aber bis in alle Ewigkeit geben.« Der Leiter der Chewra Kadischa wünscht sich eine Trauerhalle, in der die Toten würdevoll verabschiedet werden. »Das wird eines Tages ein historisches Juwel«, sagt er. Manchmal fährt Grinstein zu Peter Pöll, dem Sekretär der jüdischen Gemeinde, um sich für den Ausbau des Friedhofs einzusetzen. Er wünscht sich, daß man jemanden anstellt, der sich auf dem Friedhof um alles kümmert. »Wenn das erledigt ist, dann kann ich in Ruhe sterben.«
Am Ende des Gesprächs soll Grinstein etwas über die Unterschiede zwischen deutschen und russischen Ärzten sagen. »Bei uns in Deutschland«, beginnt er einen langen Monolog. Professor Jewgeni Grinstein ist angekommen.

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