Thomas Wodak

»Ich entspreche keinen Klischees«

Mein Leben verläuft ziemlich normal. Ich empfinde das jedenfalls so. Was soll ich erzählen? Zur Welt gekommen bin ich in Brünn, in der Tschechoslowakei. Ich war ein Jahr alt, als meine Eltern mit mir nach Israel auswanderten. Mein Vater war Bauingenieur. Er arbeitete für Mekorot, die israelische Wassergesellschaft. Er brachte das Wasser vom Jordan runter in die Negev-Wüste. Mein Vater verlor seine Eltern und seine Schwester in Auschwitz. Gesprochen haben wir nie darüber. Obwohl man ihm seine Familie nahm, war es so, dass ich ihn als fröhlichen Menschen wahrgenommen habe. Nur an eine Situation kann ich mich erinnern, in der es anders war: Meine Eltern und ich fuhren nach München, ich war damals 14, und ich wollte Dachau besuchen. Mein Vater sträubte sich. Ich aber bohrte immer weiter. Als das Schild mit dem Schriftzug »Dachau« zum zweiten Mal am Straßenrand auftauchte, fuhren wir dann doch hin. Meine Mutter bekam einen Weinkrampf, ich selbst habe es nie bereut.
1965 zogen wir nach Deutschland, zuerst nach Bad Soden, dann nach Schwalbach. Mein Vater hatte sich als Jecke in Israel nicht wohlgefühlt, er konnte sich in diesem Ellbogenland nicht zurechtfinden.
Ich betreibe als Franchise-Unternehmer einen
T-Punkt-Laden der Telekom in Rödelheim, einem Stadtteil im Westen von Frankfurt am Main. Hier leben viele Menschen mit wenig Geld. Ich finde, Geld beruhigt, aber das Menschliche darf nicht zu kurz kommen. Vor ein paar Tagen kam eine alte Frau zu mir. Sie war verzweifelt, hatte eine Telefonrechnung über 130 Euro im Briefkasten. Ich dachte mir, sie hat doch bestimmt eine ganz kleine Rente. An so etwas könnte ich auf Dauer zerbrechen. Ich habe ihr schließlich helfen können, sie bekam von der Telekom eine Gutschrift.
Im Vogelsberg, in Niedermoos, da haben meine Frau Irene und ich einen Wohnwagen. Auf unserem Kugelgrill bereite ich öfter mal einen schönen Lammbraten. Für den bin ich bekannt, jeder, der ihn schon einmal gegessen hat, schwärmt von ihm. Was mir nicht gefällt: Dass immer ich es bin, der die Initiative ergreift. So alle zwei Wochen fahren wir raus. Früher waren wir oft mit den Kindern im Vogelsberg. Unsere Tochter Daniela ist 34 Jahre alt, unser Sohn Michael 26. Ich bin ein Familienmensch, Familie ist mir das Wichtigste im Leben.
Meine Frau Irene habe ich vor 27 Jahren beim Kegeln kennengelernt. Es ist meine zweite Ehe. Was mir an ihr gefiel? Ihre fröhliche Art. Das Jüdische spielt in meinem jetzigen Familienleben keine große Rolle. Bei meiner ersten Frau war das anders. Sie jiddelte aus Zuneigung zu mir immer ein wenig. Vor allem in den Jahren unmittelbar nach unserer Auswanderung fehlte mir das Jüdische oft. Damals habe ich gemerkt, dass ich mit den Juden meiner Generation hier in Deutschland nicht klarkam. Warum das so war, kann ich nicht sagen. Ich weiß noch genau, wie ich hier zum ersten Mal den Unabhängigkeitstag Israels erlebt habe. Rabbiner Lichtigfeld hielt eine Rede, und die Jugendlichen um mich herum hörten ihm gar nicht zu, waren laut. Die Situation kränkte ihn sehr, und er ging schließlich. Mich machte das sehr traurig. Ich kam als Idealist nach Deutschland, war ein richtiger Israeli, für mich war alles, was mit Israel zu tun hatte, gut. Meine Idole waren Ben Gurion, Herzl und natürlich Golda Meir.
Ich ging damals in ein Internat, da ich nur schlecht Deutsch sprach und man dort die Sprache angeblich besser lernte. Bis heute habe ich Probleme, mit dem Dativ und dem Akkusativ zum Beispiel. In Israel war ich ein guter Schüler, hier in Deutschland bekam ich lauter Fünfer. Ich habe dann das Handtuch geworfen und kein Abitur gemacht. Eigentlich wollte ich Tierarzt werden, aber gelandet bin ich als Prokurist in der Buchhaltung eines Frankfurter Molkereibetriebs, später kam ich in dessen Datenverarbeitung. Damals noch mit Lochkarten. Ich arbeitete mich hoch bis zum Programmierer großer IBM-Rechner. Meine Jobs wechselte ich recht häufig, obwohl ich eigentlich ein sehr sesshafter Typ bin. 1982 stellte mich schließlich Woolworth ein. Mein ehemaliger Lehrmeister im Molkereibetrieb sagte einmal zu mir: »Tommy, mit 36 Jahren solltest du sesshaft werden.« Was mir mit meiner letzten Festanstellung ja auch gelungen ist.
Ich habe mich wohlgefühlt bei Woolworth, bis 2002 die neue Garde kam und uns Alte entsorgte. Man sagte zu mir: »Herr Wodak, Sie haben einen Superjob gemacht, aber wir trauen Ihnen das in Zukunft nicht mehr zu.« Einen Tag zuvor hatten wir meine Mutter beerdigt, das tat sehr weh. Ich selbst war als junger Mann immer froh gewesen, wenn es da noch einen Älteren gab, den ich fragen konnte, doch heute ist das anders, da zählen Dinge wie Powerpoint-Präsentationen. Jetzt bin ich 60 Jahre alt. Doch ich bin jemand, der eine Aufgabe braucht. Deshalb sitze ich jetzt hier in meinem T-Punkt-Laden. Seite an Seite mit meinem Kollegen.
Erleben kann man hier einiges. Auch Enttäuschungen. Ein paar Wochen ist es her, da hatten wir Betrüger in unserem Laden. Heute kam das Schreiben von T-Mobile, mit der Bitte, ihnen die Original-Vertragsunterlagen zuzuschicken, damit die von der Telekom das zurückverfolgen können. So was tut weh, wenn man sich in Menschen täuscht. Wozu manch einer fähig ist, erschreckt mich gerade in letzter Zeit. Das mit den Kellerkindern in Österreich hat mich sehr beschäftigt. Und erzürnt. Vor allem die Ignoranz der Nachbarn. Wenn da einer jahrelang jeden Tag mit einer Brötchentüte nach Hause kommt, und plötzlich ist es eine Schubkarre voll mit Lebensmitteln – da soll keiner was gemerkt haben? Auch in Dachau gab es nicht weit entfernt vom KZ Wohnhäuser – da soll keiner etwas gewusst haben? Die Menschen laufen durch die Welt und wollen nichts hören und sehen.
In meiner Freizeit bin ich viel unterwegs. Mit meiner Harley. Dem Klischee eines Harley-Fahrers entspreche ich nicht. Mit nackten Frauen, die sich mit Schokopudding bestreichen, um sich anschließend von Harley-Fahrern abschlecken zu lassen, kann ich nichts anfangen, ich gehöre zu denen, die ganz gemütlich einen Schoppen trinken. Vom Harley-Mythos, dem Gefühl von Freiheit, halte ich persönlich nichts. Für mich ist es einfach nur Spaß. Wenn man durch den Wald fährt und ihn riecht, das ist wunderbar.
Ich bin auch Mitglied in einem Angelverein. Am Vatertag haben wir 500 Forellen geräuchert. Zum Teil sind da ganz einfache Bauern dabei, sie sind sehr nett und freuen sich, wenn mal jemand aus dem großen Frankfurt raus nach Lauterbach kommt. Ich komme grundsätzlich mit allen Menschen gut klar, ganz gleich, ob Arbeiter oder Geschäftsmann – Hauptsache, sein Herz ist am rechten Fleck.
Auf eines freue ich mich jetzt schon ganz doll: auf das Herrenwochenende mit meinem Sohn Michael. Ein Geschenk zu meinem 60. Geburtstag. Wir fahren nach Hamburg. Werden das Hafenfest besuchen, eine Rundfahrt machen, über den Fischmarkt bummeln. Wir haben ein sehr vertrautes Verhältnis. Mein Sohn ist bei Woolworth im Einkauf. Als ich dort noch arbeitete, habe ich ihn in der Mittagspause öfter mal zu mir rübergeholt, um ihn einfach mal kurz in den Arm zu nehmen. Mittlerweile ist ihm diese Zärtlichkeit allerdings etwas peinlich. Aber als er noch ganz klein war, hat er sich oft in die Kuhle meiner Kniekehle gelegt. Für mich waren das Momente großen Glücks.
Viele denken nicht, dass ich Jude bin, weil ich korpulent bin, und auch meine Gesichtszüge so gar nicht dem Klischee entsprechen. Wenn dann jemand was Negatives über Juden sagt, sag ich: »Schau her, ich bin einer.« Ich gehe übrigens auch sehr gerne jüdisch essen, manchmal fahre ich mit meiner Harley auf die Schnelle in den Oeder Weg, wo es die besten Falafel in ganz Frankfurt gibt. Ich esse ein paar und haue wieder ab. Auch ins jüdische Altersheim, in dem meine Mutter bis zu ihrem Tod gelebt hat, gehe ich bis heute regelmäßig. Ich besuche einige Bewohner. Aber ich bin auch deshalb gern dort, weil es da so wunderbar nach jüdischem Essen duftet. Zur jiddischen Sprache habe ich ein ganz spezielles Verhältnis. Eigentlich finde ich sie unsympathisch, es ist ein Sprachensumpf. »Patsch in Peine« heißt »Schlag ins Gesicht« – schön klingt das nicht. Und dennoch höre ich das Jiddische gerne, berührt es mich. Deshalb fühle ich mich auch jedes Jahr auf dem WIZO-Basar so wohl. Wenn ich all diese Menschen im Getümmel höre, wird mir ganz warm ums Herz. Ein bisschen ist es so wie mit den Möpsen. Möpse sind nicht gerade schöne Hunde, aber sie besitzen sehr viel Charme.

Aufgezeichnet von Annette Wollenhaupt

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