jean bernstein

»Ich brauch’ immer was zu tun«

Mit meinem kleinen Fiat bin ich zum Glück recht flott unterwegs. Zweimal die Woche, donnerstags und freitags, fahre ich nach Düsseldorf. Ich bin dort Madrich im Jugendzentrum der Gemeinde. Noch gehe ich in Dortmund, wo ich wohne und aufgewachsen bin, zur Schule. Nächstes Jahr will ich endlich mein Abi machen. Ein bisschen hat’s gebraucht, ich bin ja schon 20, aber ich nehme das jetzt sehr ernst. Ich hatte es ein bisschen ruhiger angehen lassen. Im Nachhinein ärgere ich mich. Aber aus Fehlern lernt man.

jugendarbeit Als Madrich zu arbeiten, macht mir Riesenspaß. Ich bin gefragt worden: »Sag mal, Jean, möchtest du nicht zu uns nach Düsseldorf kommen?« »Wow, cool«, dachte ich, »Düsseldorf!« Das war immer das Vorzeigejugendzentrum. Da fiel es mir nicht schwer, ja zu sagen. Wir haben ein Superteam, dadurch macht es großen Spaß. Manchmal bleibe ich das ganze Wochenende dort. Donnerstags haben wir unsere Besprechung, da überlegen wir, was wir in der nächsten Zeit machen wollen, bereiten Reisen und Events vor, was halt so ansteht. Wir versuchen, den Kindern ein Überraschungsprogramm zu bieten. Sie wollen schließlich begeistert werden.
Vor Kurzem sind wir ins Jugendzentrum der Gemeinde umgezogen. Dort haben wir eigene Räume. Vorher waren wir in der Schule untergebracht, ein paar Minuten von der Synagoge entfernt. Ich finde es gut, dass wir unsere Räume selbst mitgestalten können.
Sonntag ist unser großer Jugendzentrumstag. Zu Anfang gibt es die Kreise, die Chugim. Wir haben zum Beispiel einen Chug, wo wir gemeinsam etwas kochen. Den »Media«-Kreis leite ich. Nach den Chugim, die meist so zwischen 14 und 15 Uhr stattfinden, essen wir gemeinsam. Da wird auch gesungen, und manchmal haben wir Preise für diejenigen, die sich beim Singen ganz besonders hervorgetan haben. In die Chugim kommen Kinder zwischen sechs und 18 Jahren. Das ist eine ziemlich große Spanne, aber wir achten darauf, dass für jeden etwas dabei ist. Nach dem Essen versammeln wir uns alle, zählen durch, dann gibt es unsere Jugendzentrumshymne, und unsere Leiterin macht Ankündigungen. Später folgen die verschiedenen Pe’ulot, unsere Aktivitäten speziell für jede Altersstufe. Ich nenne es gern »Mein persönliches Sprachrohr«. Ich habe dort die Möglichkeit, Denkanstöße zu geben. In erster Linie geht es natürlich darum, den Kindern etwas zu bieten. Aber die Arbeit als Madrich ist für mich auch eine schöne Gelegenheit, Dinge nachzuholen, die ich selbst als Kind nicht machen konnte, weil es sich nicht ergab oder die Möglichkeiten fehlten.

pe’ulot Für die Pe’ulot sind wir meist ein Team mit Co-Madrich oder Co-Madricha. Ich leite auch noch die »Ben-Jehuda-Gruppe« mit, das sind unsere Ältesten, die Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren. Insgesamt sind wir acht Betreuer. Vieles muss für mich allerdings telefonisch ablaufen, zumal meine Co-Madricha Anna in Köln wohnt.
Das Programm der Pe’ulot ist auf die entsprechende Altersstufe zugeschnitten. Teilweise läuft es so, dass sich die Kinder untereinander austauschen, was ja auch viel förderlicher ist, als wenn ich mich vor sie hinstellen und sagen würde: »So ist es, und so muss es sein.« Jeder soll seinen eigenen Weg finden. In den Pe’ulot versuchen wir, das zu unterstützen. Wir reden über alles Mögliche, über Politik, Drogen.
Natürlich geht es auch darum, das Jüdische mit hineinzubringen. Mit den Jüngsten erkunden wir auf spielerische Art die Welt um uns herum. Die Kleinen sind die größte Herausforderung für einen Madrich. Denn in meinem Denken bin ich den Älteren natürlich sehr viel näher als den Jüngeren. Man muss sich sehr in sie hineinversetzen. Insgesamt kommen so zwischen 30 und 60 Kinder zu uns.
Ich wünsche mir, dass das Jugendzentrum so richtig aufblüht. Denn wir schaffen die Gemeinde von morgen.

schülerzeitung Ich habe noch ein anderes Projekt: unsere Schülerzeitung. Es ist noch gar nicht lange her, da fragte mich ein Lehrer, ob ich das in die Hand nehmen möchte, quasi als Chefredakteur. Ich dachte: »Warum nicht?« Ich verspüre den Drang zu schreiben. Mein Großvater hat auch journalistisch gearbeitet, zu Hause gibt es einen Ordner mit seinen Artikeln. Er stammte aus Berlin. Als die Nazis an die Macht kamen, ist er nach Frankreich emigriert. Dort hat er eine Résistance-Zeitung herausgebracht. Irgendwie ist er dann nach Nordafrika gelangt und hat die Schoa überlebt. Nach dem Krieg ging er nach Ost-Berlin und war sogar in der SED. Aber als es dort Anfang der 50er-Jahre schwierig wurde, ist er nach West-Berlin geflohen. Dort traf er auf meine Großmutter. Vielleicht trete ich ja in seine Fußstapfen und werde auch Journalist. Dienstags und donnerstags kommt unser kleines Redaktionsteam zusammen. Noch vor den Sommerferien soll die erste Nummer unseres Blattes stehen.
Den Namen Jean habe ich von meinem anderen Großvater, der in Rumänien lebte. Meine Eltern lernten sich in Dortmund kennen, aber meine Mutter verbrachte auch viel Zeit in Frankreich. So ist Jean wohl ebenso ein Andenken an diese Zeit.

schule Ich muss sehr früh raus, die Schule beginnt schon um halb acht. Meine Mutter nimmt mich meist mit, sie ist dort Sekretärin. Am meisten interessieren mich Sozialwissenschaften, Deutsch und Philosophie. Mein Sorgenkind ist Mathe. Unser Kurs ist verrufen, als der, der kein Mathe kann.
Nebenbei jobbe ich bei Europcar. Das ist cool. Ich kann mir die Zeit frei einteilen. Manchmal sind’s nur vier, manchmal aber auch 20 Stunden in der Woche. Das ganze Programm: Tanken, Waschen, mal ein Auto zum Kunden bringen. Ich brauche immer was zu tun. Es ist ein ganz schön dichtes Programm: die Schule, das Jugendzentrum, Europcar. Deshalb bin ich auch froh, wenn ich am Schabbat mal meine Ruhe habe.
In Dortmund haben wir eine ziemlich starke Gemeinde mit vielen Zuwanderern. Das finde ich schön. Sie ist lebendig, auch wenn es nicht viele Jugendliche gibt. Ich bin allerdings meist nur an den hohen Feiertagen da und hin und wieder mal am Schabbat. Früher bin ich sehr regelmäßig in die Gemeinde gegangen. Durch den Schulstress und die viele Arbeit musste ich alles ein wenig zurückschrauben. Sonst hätte ich überhaupt keinen Tag mehr in der Woche wirklich nur für mich.

zukunft Nach dem Abi will ich unbedingt nach Israel, auch wenn es nur eine kurze Zeit ist. Ich war noch nie dort. Diesen Sommer fahre ich als Madrich zum Machane nach Gatteo in Italien. Mein großer Traum ist es, irgendwann in die Ferne zu ziehen. Ganz weit weg. Wohin genau, ist noch offen. Vielleicht steckt da ein bisschen die Erfahrung meiner Familie mit drin, die ja viel herumgekommen ist.

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