Boygroup

Generation Tokio Hotel

von Nicholas Brautlecht

Gaby Goldberg bekommt in letzter Zeit häufiger Anrufe von verzweifelten Müttern. Sie alle haben das gleiche Problem: Ihre Kinder wollen Deutsch lernen. Wegen Tokio Hotel. Dieser Band aus Magdeburg. »Das ist denen hochgradig peinlich«, sagt Goldberg und lacht. Die 47-Jährige mit dem Kurzhaarschnitt ist seit 13 Jahren Deutschlehrerin am Goethe-Institut in Jerusalem und profitiert, genau wie ihre Kolleginnen in Tel Aviv, von einem Musiktrend: Israelische Mädchen lieben Tokio Hotel. Sie lieben sie so sehr, dass sie mit einer Leserbrief-Kampagne das populäre Jugendma-
gazin »Rosch Echad« dazu bewegten, zum ersten Mal in seiner Geschichte eine deutsche Band auf den Titel zu heben. Aber damit nicht genug: 6.000 Fans unterschrieben eine Petition und lockten so die vier Jungs ins Heilige Land.
Auch Naomi Lubinetzki aus Haifa wäre bei dem Konzert im Oktober gerne dabei gewesen. Doch scheiterte sie am Widerstand der Eltern. Schließlich war Schabbat. Da sind Ausflüge nach Tel Aviv nicht drin. »Ich habe viel geweint an dem Tag«, sagt Naomi. Trost fand die 13-Jährige in den Tokio-Hotel-Texten. Zudem ist sie in ihrer Clique jetzt selbst ein Star. Denn sie spricht Deutsch und das ist »in«. »Früher behaupteten hier alle, Deutsch sei hässlich, die Sprache der Nazis und des Zweiten Weltkriegs«, sagt Naomi, die bis ins Grundschulalter in Düsseldorf lebte. Auch jetzt werde sie im Streit mit anderen Jugendlichen gelegentlich noch als Nazi beschimpft.
Doch seitdem Israels Teenager Lieder wie »Durch den Monsun«, »Schrei« und »Spring nicht« aus dem Internet herunterladen und mit dem Konterfei von Sänger Bill bedruckte Mappen in die Schule tragen, gilt Deutsch nicht mehr als die »Sprache der Täter«. Das Image wandelt sich. Unter vielen jungen Israelis steht Deutsch jetzt für die großen Gefühle – für Liebe, Verzweiflung und Freundschaft. Auch Naomis Freundin Avishag will Deutsch lernen, damit sie die Tokio-Hotel-Texte bald selber ins Hebräische übersetzen kann. »Denn die Songs sind nicht oberflächlich, sondern haben Tiefgang«, schwärmt die 16-Jährige.
Aber warum bringt gerade Tokio Hotel israelische Mädchen zum Kreischen? Wa-
rum keine Band aus England oder den Vereinigten Staaten? Die Antwort scheint nicht nur in den Texten zu liegen, sondern auch an der Art und Weise wie die Band auftritt. Vor allem das leicht androgyne Äußere von Sänger Bill Kaulitz und seine wild toupierte schwarze Mähne scheinen die Mädchen hier zu beeindrucken. »Sie sind wie Freaks – es gibt einfach nichts Vergleichbares in Israel«, sagt Naomi. »Und das wird auch immer so bleiben.«
Dass sich Deutschlernen nun in Israel zum neuen Trend entwickelt hat, kommt überraschend. Denn die Fremdsprache steht an israelischen Schulen gar nicht auf dem Stundenplan. Hier haben Englisch und Französisch Vorrang. Nur einige Dutzend Gymnasiasten nutzen jedes Jahr eine Sonderregelung und lassen sich ihre Deutsch-Kenntnisse beim Bagrut, dem israelischen Abitur, anrechnen. Abgenommen wird die Prüfung vom Goethe-Institut, das auch Vorbereitungskurse anbietet. In Haifa und Tel Aviv gibt es zudem einige wenige Schulen, in denen Schüler freiwillig an einer Art Deutsch-AG teilnehmen können. Ansonsten fällt das Wort Deutschland vor allem im Geschichtsunterricht: Hier ist die Schoa wohl ein zentrales Thema. Besuche in der Holocaust-Gedenkstätte »Jad Vaschem« in Jerusalem gehören für Schüler zum Pflichtprogramm. Doch so-
bald die Teenies den Unterricht verlassen und sich in ihre eigenen vier Wände zu-
rückziehen, scheint die Vergangenheit kaum noch eine Rolle zu spielten. Dort grüßen Bill, Tom, Georg und Gustav von den Wänden und aus den Boxen dröhnen ihre Lieder.
Den Chefredakteur des Jugendmagazins »Rosch Echad«, Avi Morgenstern, wundert diese Einstellung nicht. Ihm zufolge unterscheiden sich die Vorlieben und Idole der israelischen Jugend eigentlich kaum von denen Gleichaltriger anderswo. Und er hat recht: Teenager in Tel Aviv legen neben Tokio Hotel auch die Hits von Justin Timberlake oder Britney Spears auf, genau wie viele Jugendliche in Berlin oder Hamburg. Auch spielen sie Playstation, versuchen auf dem Bolzplatz wie Fußballstar Lionel Messi aus Barcelona zu dribbeln oder verfolgen im Fernsehen »Kochav Nolad«, die israelische Version von »Deutschland sucht den Superstar«. Laut Morgenstern wollen Ju-
gendliche, egal ob in Deutschland oder Israel, vor allem eines: Spaß haben. Und dann zieht der Vater von vier Kindern eine Parallele zu seiner Jugendzeit, erzählt wie er als junger Mann Nena gehört hat. »›99 Luftballons’ – das war der Hit damals.« Dass seine Großeltern in Auschwitz waren und der Holocaust seine Familie zerstörte, erwähnt der Journalist erst später. Offenbar sind Popkultur und Geschichte auch für ihn zwei verschiedene Paar Schuhe.
Gibt es also 60 Jahre nach der Staatsgründung eine »Generation Tokio Hotel« in Israel, die mit Deutschland und der deutschen Sprache viel unbelasteter umgeht? Durchaus, meint Gaby Goldberg. Die Ju-
gend, so die Deutschlehrerin, schaffe durch ihre Neugier eine Art Nische im deutsch-israelischen Verhältnis. Früher hätten älteren Menschen beim Einstufungstest für Kurse am Goethe-Institut die Hände gezittert. Heute kämen die Mädchen in die Jerusalemer Sokolov Straße 15 und könnten es kaum abwarten, die Worte des neuesten Tokio-Hotel-Hits zu lernen. Dass für die Teenager dabei der Holocaust so weit weg zu sein scheint, liege manchmal schlicht an ihrem mangelndem Geschichtswissen, sagt Goldberg. »Teilweise bereiten wir 15- oder 16-jährige für einen Austausch vor, die die Schoa in der Schule noch gar nicht behandelt haben.«
Trotz allem freut sich die Lehrerin über den Tokio-Hotel-Hype und sieht ihn als Chance zur Annäherung zwischen Israelis und Deutschen. Dass es nur eine Masche sein könnte, glaubt sie nicht. Tokio Hotel gehe durch den Bauch und alles was durch den Bauch gehe, dränge anderes zurück, sagt sie und ist fest überzeugt, dass dieser Trend länger anhalten wird. Es sei nicht wie 2006, als die Fußballweltmeisterschaft die Zahl der männlichen Teilnehmer bei den Sprachkursen nach oben schnellen ließ. »Die waren nach der WM auch wieder weg«, sagt sie.

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