Matvei Khinitch

»Er schmeckt immer anders«

Als ich mit meiner Frau nach Düsseldorf gekommen bin, hatten wir hier gar keine Freunde oder Bekannte, nur unsere Tochter. Wir haben uns gefragt: Wohin sollen wir gehen? In die Gemeinde. Hier haben wir sehr nette Menschen kennengelernt. Ich habe den Rabbiner gefragt, wo ich helfen könnte. Nach und nach kamen Aufgaben. Bücher vorbereiten im Synagogenraum, Brote belegen für eine Veranstaltung, Besuche bei kranken Gemeindemitgliedern, ganz unterschiedliche Sachen. Düsseldorf ist eine große Gemeinde, sie hat ungefähr 7.500 Mitglieder. Ich finde es wichtig, sich einzubringen in die Gemeinde, offen zu sein und zu fragen, was man machen kann. Die Gemeinde bietet so viel – die Bibliothek, Veranstaltungen, ich finde, da sollte man auch etwas geben, es muss ja nicht Geld sein. Mit deiner Mühe, mit deiner Seele, kannst du einiges machen. Ich finde, man muss helfen.
Eines Tages wurde gefragt: »Wer kann den Tscholent für den Schabbat kochen?« Da habe ich mich gemeldet. Und weil es beim ersten Mal gut ankam und vielen geschmeckt hat, habe ich es gern weitergemacht. Einen Tscholent zu kochen, ist nicht so einfach. Ich war auch auf zwei Koscher-Kochseminaren in Bad Kissingen.
Einkaufen muss ich nicht. Hier gibt es ja eine Küche mit einem Profikoch, der für den Kindergarten und die Schule kocht. Die Zutaten werden angeliefert, das Fleisch kommt aus Belgien oder Tschechien. Es muss koscher sein, hat zwei Stempel. Für den Tscholent habe ich mein ganz persönliches Rezept, das wird auch nicht verraten. Das ist mein Geheimnis. Ich habe einmal hier in der Gemeinde zugeschaut beim Kochen, danach habe ich es gleich selbst versucht. Das mache ich jetzt seit zwei Jahren, jeden Freitag. Ehrenamtlich, freiwillig, kostenlos. Es freut mich, wenn es den Menschen schmeckt.
Jeden Freitag fange ich um halb sieben an mit den Vorbereitungen. Dann gehe ich für eine knappe Stunde zum Morgengebet, und danach koche ich bis zum Nachmittag. Das ist ein Prozess. Zuerst muss ich ganz viel schneiden. Allein fünf Kilo Kartoffeln und ein halbes Kilo Zwiebeln. Die Bohnen und Perlgraupen koche ich vor. Dann werden alle Zutaten gemischt, und ich stelle den großen Topf auf dem Gasherd. Ich koste immer wieder. Ich mache ihn zu achtzig, neunzig Prozent fertig, dann, am Nachmittag, kommt der Topf auf eine elektrische Platte. Dort steht er dann bis zum nächsten Tag gegen zwölf Uhr. Über Nacht bekommt er seinen typischen Geschmack, die Zutaten ziehen durch. Nach dem Morgengebet am Schabbat kommen die Gemeindemitglieder dann zum Essen, meistens sind es mehr als hundert. An einem normalen Schabbat reicht ein großer Topf, wenn Chuppa oder Barmizwa ist, koche ich zwei. Den Gemeindetscholent zu kochen, das ist mein fester Termin. Ich habe noch nie exakt den gleichen Tscholent gekocht. Jedes Mal entsteht ein anderer Geschmack, obwohl die Zutaten doch gleich sind. Manchmal bereite ich noch weitere Speisen zu. Gestern zum Beispiel habe ich für die Seniorengruppe zwei Bleche Kuchen gebacken. Die Komplimente der Leute freuen mich immer wieder. Was braucht der Mensch? Ein bisschen Wärme. In der Gemeinde fühle ich mich zu Hause. Jeder kann kommen und fragen. Wenn du etwas willst, bekommst du es. Aber noch schöner ist es, etwas zu geben.
Die Freude am Kochen habe ich von meiner Mutter. Schon als ich ganz klein war, hat sie mich immer aufgefordert, zuzugucken und zu helfen. Ich wollte oft nicht, habe gesagt: »Ich bin ein Junge, kein Mädchen.« Aber meiner Mutter war das egal. Heute bin ich ihr dankbar, ich habe viel von ihr gelernt.
Ich stamme aus Minsk. Vor acht Jahren sind wir nach Deutschland gekommen, meine Frau und meine Tochter. Zuerst nach Offenbach. Wir wurden gefragt: »Wohin wollen Sie?« Ich hatte gehört, dass Bayern einen guten Ruf hat, doch um dorthin zu kommen, hätten wir fünf Jahre warten müssen. Das war uns zu lange. Und so landeten wir in Kaiserslautern. Drei Mo- nate wohnten wir in einem Heim, danach zogen wir in eine Wohnung um. Ich habe relativ schnell Arbeit gefunden. Zuerst war ich Hausmeister in einer großen Immobilienfirma. Mit festem Vertrag. Anfangs war es schwierig, weil alle, mit denen ich zu tun hatte, verschiedene Dialekte sprachen. Außerdem hatte ich mit Türken und Italienern zu tun, das war wieder anders. Mit der Zeit aber gewöhnten sich meine Ohren daran.
In Kaiserslautern gab es eine sehr nette jüdische Gemeinde mit angenehmen Menschen. Ich bin jeden Schabbat hingegangen. Drei Jahre und zwei Monate habe ich als Hausmeister gearbeitet, dann wurde mir gekündigt. Ich hatte gerade meinen 60. Geburtstag in Israel gefeiert, mit vielen Verwandten und Freunden. Als wir von dort zurückkamen, hatte ein Deutscher meine Stelle eingenommen. Einerseits war das schlimm, andererseits nicht, weil wir dann nach Düsseldorf zogen, wo meine Tochter studierte. Vor eineinhalb Jahren haben wir dann auch eine Enkelin bekommen, davon hatte ich immer geträumt.
Zu Hause nutze ich die Zeit, um besser Deutsch zu lernen. Ich gucke jeden Tag deutsche Nachrichten oder deutsche Filme im Fernsehen. Das finde ich wichtig. Außerdem lese ich im Internet »Spiegel Online« und »Focus«. Wenn ich ein Wort nicht verstehe, schlage ich es nach. Vor drei Jahren hatte ich einen Autounfall, bei dem ich mich am Kopf verletzt habe. Seitdem sehe ich mit dem linken Auge alles doppelt. Das erschwert mir das Lesen, weil eine Brille das auch nicht korrigieren kann. So, dass ich maximal zehn Minuten lesen kann. Ich habe auch versucht, Arbeit zu finden, aber mit 63 habe ich keine Chance mehr. In Weißrussland war ich Bauingenieur, jetzt bin ich Frührentner.
Meine Woche sieht immer anders aus, nur der Tscholent steht fest. Manchmal werde ich gebeten, mit jemandem zum Arzt zu gehen oder auf ein Amt, um zu übersetzen. Ich mache regelmäßig Besuche im Krankenhaus. Die kranken Menschen freuen sich darüber, sie wollen sich unterhalten. Einmal habe ich an einem Tag fünf Kranke besucht, Schwerkranke. Das war zu viel, das ist hart für die Seele. Jetzt teile ich mir die Besuche besser ein.
Heute Abend gehe ich noch zu einem Vortrag über Jerusalem. Der Rabbiner vermittelt jüdische Geschichte durch die Geschichte Jerusalems. Ein anderer Rabbiner macht runden Tisch, wir stellen Fragen, er antwortet. Ich finde das wichtig.
Am Mittwoch muss ich mich früh auf den Weg machen. Ich bin gefragt worden für den Minjan zum Morgengebet. Aber morgen streiken Busse und Bahnen, da muss ich mich schon kurz nach sechs Uhr auf den Weg machen. Ich werde laufen, etwa anderthalb Stunden. Aber ich werde kommen, Gebet muss sein.
An Düsseldorf mag ich besonders das Rheinufer. Es erinnert mich an zu Hause. Durch Minsk fließt auch ein Fluss. Düsseldorf ist eine sehr schöne Stadt. Ich habe nie gedacht, dass ich eines Tages hierherkomme. Ich weiß es nicht, aber ich denke, Er da oben führt.

Aufgezeichnet von Annette Kanis

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