Oberrabbiner

Eine Schule und 300.000 Buchstaben

von Detlef David Kauschke

Für Shabtay Garbarcik ist es das erste Mal. Noch nie war er in Deutschland. Und jetzt begleitet der 47-jährige Nachrichtenchef des religiösen Radiosenders »Kol Chai« gleich die israelischen Oberrabbiner nach Frankfurt am Main und Berlin. »Wird der Besuch in Deutschland Schlagzeilen machen?«, will er wissen. Wohl kaum. In die Tagesschau oder auf die Titelseiten der großen Zeitungen schafft es der Besuch nicht. Gleichwohl: Für Rabbiner Yitshak Ehrenberg, den Vorsitzenden der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands (ORD), ist er etwas ganz Besonderes: »Es hat eine historische Bedeutung, wenn die Oberrabbiner als geistige Führer der jüdischen Welt zu uns kommen. Ihre Anwesenheit kann uns und unseren Gemeinden sehr viel geben.« Die ORD war es, die Jona Metzger und Schlomo Amar eingeladen hat. Der nicht jüdischen Öffentlichkeit könne man die Bedeutung dieses Besuches wohl nicht so einfach vermitteln, vermutet Radiomann Garbarcik. Aber selbst die großen israelischen Medien hätten wenig Interesse, sagt er. Doch Garbarcik und drei weitere Reporter von »Hamodia« und anderen orthodoxen Zeitungen wollen dafür sorgen, dass ihre Leser und Hörer in Israel davon erfahren, was der aschkenasische Oberrabbiner und sein sefardischer Amtskollege bei ihrem ersten offiziellen Besuch von Donnerstag bis Sonntag erleben. Vier Tage Deutschland, von West nach Ost.
Anlass ihres Aufenthalts ist die feierliche Einweihung einer Torarolle in Berlin, die der Zentralrat der Juden in Erinnerung an seinen ehemaligen Präsidenten Paul Spiegel sel. A. gespendet hat. Doch die erste Station heißt Frankfurt am Main. Dort tagt im Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum am Freitagvormittag das Rabbinatsgericht, das Beit Din. Es geht unter anderem um den Fall eines deutschen Übertrittswilligen. Behandelt wird auch ein bereits seit Jahren bestehender Scheidungswunsch einer inzwischen wieder in Israel lebenden Frau. Eine besondere Sitzung, für viele eine historische: Erstmals ist mit Oberrabbiner Amar der Präsident des Großen Rabbinatsgerichts in Israel bei einem Beit Din in Deutschland anwesend.
Dann weiter zur I.E. Lichtigfeld-Schule im geschichtsträchtigen Philantropin im Frankfurter Nordend. Mit dem Ständchen einer Eingangsklasse im Treppenhaus werden die hohen Gäste begrüßt. Dann kurze Gespräche mit Schülern im Klassenraum der 7a – auf Hebräisch. Typisch Lichtigfeld-Schule. Denn hier steht die Vermittlung jüdischen Wissens und jüdischer Identität im Vordergrund. Sechs bis sieben Stunden in der Woche würden die Kinder in Judaistik unterrichtet, sagt Direktorin Alexa Brum. »Aber auch in den anderen Unterrichtsfächern fließen jüdische Inhalte mit ein. In Geschichte geht es bei uns immer auch um jüdische Geschichte, in Deutsch werden stets auch jüdische Texte behandelt«, sagt die Schulleiterin. Die beiden Oberrabbiner nicken zufrieden. Jona Metzger schlägt vor, sonntags ein Beit Midrasch einzurichten – Unterricht auf freiwilliger Basis –, um ein zusätzliches An-
gebot für Interessierte zu schaffen. Am Ende eines Jahres könnten dann die drei Besten für eine Woche nach Israel reisen. »Wir werden sie in Jerusalem empfangen«, versprechen die Oberrabbiner.
Dann in die Mensa. Aber keine Kinder weit und breit. »Wir wollen nicht nur Räume anschauen, sondern die Schüler kennenlernen«, überrascht Metzger Di-
rektorin Brum. Ein paar Minuten später sitzen 400 Kinder in der Aula. Metzger und Amar beten mit ihnen die ersten Verse des Schma Israel und singen mit den Kindern das Adon Olam. »Ich bitte euch, immer daran zu denken, dass ihr Juden seid«, sagt der sefardische Oberrabbiner. Das Aufnahmegerät von Radioreporter Garbarcik läuft, als Amar die Kinder auffordert, Tefillin zu legen, Schabbatkerzen zu zünden und auch in Zukunft »als stolze Juden« zu leben. »Das mitten in Deutschland – ein wirklich sehr bewegender Moment.« Journalist Garbarcik ist beeindruckt. Und überrascht. »Ich habe immer noch ein sehr gemischtes Gefühl, wenn ich jüdische Kinder in der Schule sehe, die vor der Tür von deutschen Polizisten bewacht werden.« Auch die neugierigen Blicke auf seine mit Hut, Bart und Schläfenlocken deutlich als orthodoxe Juden erkennbaren Begleiter spürt er in den Frankfurter Straßen. »Verwirrend finde ich auch diese Normalität. Alles geht seinen Gang – und das nach allem, was hier geschehen ist.«
Schabbat beginnt. Abendgebet im Gemeindezentrum, morgens Gottesdienst in der großen Westend-Synagoge. Die Gebete werden begleitet von der eindrucksvollen Stimme des Tel Aviver Oberkantors Chaim Adler. »Es ist das erste Mal in unserem Leben, dass wir einen Schabbat in Deutschland verbringen«, erzählt Metzger.

Am Samstagabend steht das nächtliche Gebet am Grab des Baal Schem von Mi-
chelstadt auf dem Programm. Der »Wunderrabbiner« Seckel Löb Wormser wirkte hier im 19. Jahrhundert. Die Gruppe zieht Psalmen rezitierend sieben Mal um den alten Grabstein. Anschließend trifft sie sich vor den Toren des Friedhofs in ei-
nem Zelt zu einer Seuda, einem Büfett mit weiteren Gebeten und Gesang.
Doch der Höhepunkt ihrer Reise steht den Rabbinern noch bevor. Am Sonntagvormittag treffen sie in Berlin ein. Metzger, Amar und die Mitglieder der ORD eilen in die Synagoge Joachimstaler Straße, um die Tora für Paul Spiegel sel. A. einzuweihen. Eine Zeremonie im Andenken an den im April vergangenen Jahres in Düsseldorf verstorbenen Zentralratspräsidenten.
304.805 Buchstaben hat eine Tora. Die 15 letzten hebräischen Lettern werden von den Ehrengästen auf das kostbare Pergament geschrieben. Sofer Itzhak Steiner, der die Tora in Jerusalem gefertigt hat, führt ihre Hand. Zum Schluss wird der Toramantel über die Rolle gestreift. Auf weißes Samt ist in goldener Schrift gestickt: »Der Jugend unsere Zukunft.«
Der Vorsitzende der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), Abraham Lehrer, erinnert an Paul Spiegel. Ihm sei es stets ein besonderes Anliegen gewesen, etwas für die Jugend zu tun. »Wir alle können auf das, was er für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland getan hat, sehr stolz sein.« Deshalb sei es eine wunderschöne Idee der ORD, »eine Sefer Tora für die Jugend im Andenken an Paul Spiegel zu schreiben«, sagt Lehrer. »Es ist dem Zentralrat zu danken, dass das Projekt Wirklichkeit geworden ist.«
Nathan Kalmanowicz, Präsidiumsmitglied des Zentralrats, betont, dass im Gedenken an Paul Spiegel in der deutschen Hauptstadt, in der auch der Zentralrat seinen Sitz hat, in Anwesenheit der israelischen Oberrabbiner eine Torarolle fertiggestellt und geweiht wird: »Das zeigt, dass unsere Feinde es weder geschafft haben, das Judentum zu vernichten, noch den jüdischen Geist zu zerstören.«
Die Worte hören auch Gisèle Spiegel und ihre beiden Töchtern Leonie und Dina. Die Witwe Paul Spiegels wird später sagen: »Es war unglaublich bewegend. Wir hatten den Eindruck, mein Mann und der Vater meiner Töchter war wirklich präsent.« Tochter Leonie hat an diesem Sonntag Geburtstag. »Sie versucht, diese Toraeinweihung als Geschenk zu sehen«, sagt Gisèle Spiegel. Charlotte Knobloch nickt zustimmend: »Für uns ist es wichtig, dass durch diese Torarolle immer wieder an Paul Spiegel gedacht wird, der so viel Gutes getan hat.«
Diese Worte wiederholt die Zentralratspräsidentin noch einmal bei ihrer Ansprache im Gemeindehaus in der Fasanenstraße. Bei dieser Gelegenheit wendet sich Oberrabbiner Jona Metzger noch einmal an Charlotte Knobloch und die anderen führenden Mitglieder des Zentralrats. Er dankt für ihre Unterstützung beim Aufbau der ORD und der Einrichtung des Beit Din. »Wir haben uns überzeugt, dass der Zentralrat in uns die oberste Instanz der jüdischen Welt sieht«, sagt Metzger. Umgekehrt würden die Oberrabbiner Israels es nicht zulassen, dass eine andere Organisation als der Zentralrat für sich in Anspruch nehmen könnte, im Namen der jüdischen Gemeinschaft hierzulande zu sprechen. »Wir stehen absolut hinter ihnen.«
Bedeutende Worte. Doch davon wird Shabtay Garbarcik den Menschen in Bnei Brak und Jerusalem kaum berichten. Was er statt dessen aus Deutschland mitbringen wird? »Ich weiß es noch nicht genau«, sagt er. »Ich muss erst einmal verarbeiten, was ich hier erlebt und gesehen habe.« Er habe immer noch Zweifel, ob es gut ist für Juden, gerade in Deutschland zu leben. »Aber da es hier nun wieder eine jüdische Gemeinschaft gibt, muss man ihr helfen und sie in ihrer jüdischen Entwicklung unterstützen.”

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