Jom Haschoa

Eindringlich leise

von Miryam Gümbel

»Wisse, vor wem du stehst« – diese Mahnung über dem Toraschrein in der neuen Münchner Synagoge zitierte Ernst Cramer, bevor er mit leisen, aber umso eindringlicheren Worten an Jom Haschoa, dem Holocaust-Gedenktag, zur Münchner jüdischen Gemeinde sprach.
Eingebettet zwischen Mincha und Maariv war der Erinnerung an die Ermordeten des Holocaust ein würdiger Rahmen geboten. Gemeinderabbiner Steven Langnas hob die wichtige Rolle der Holocaust-Überlebenden beim Aufbau der Gemeinden nach 1945 hervor. Jugendliche der Theatergruppe der IKG, des Jugendzentrums und der Zionistischen Organisation hatten die Anwesenden zunächst mit Zitaten und Versen in die Zeit des unfassbaren Leidens zurückversetzt. IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch dankte den Jugendlichen, dass sie in Zukunft die Mitverantwortung dafür übernehmen, an die brutalen Verbrechen der Nationalsozialisten zu erinnern und der Opfer der Schoa zu gedenken.
Als einen, »der sein ganzes Leben der Wahrheit verschrieben« hat, begrüßte Charlotte Knobloch den Zeitzeugen Ernst Cramer, Vorstandsvorsitzender der Axel-Springer-Stiftung. Geboren am 28. Januar 1913 in Augsburg, wurde er nach der »Reichskristallnacht« vom 9. November 1938 für sechs Wochen im Konzentrationslager Buchenwald interniert. 1939 emigrierte er in die USA und kehrte 1945 als Angehöriger der amerikanischen Streitkräfte nach Deutschland zurück. Ab 1948 schlug er die journalistische Laufbahn ein, wurde stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt, später, von 1981 bis 1993, war er Herausgeber der Welt am Sonntag.
Seinen Vortrag stellte der Zeitzeuge unter das Motto »Erinnern und Weitermachen«. Zum letzten Mal war er am 9. November 1938 in einer Münchner Syna- goge. Es war die Ohel-Jakov-Synagoge, die in der Herzog-Rudolf-Straße stand. Sie wurde in der darauffolgenden Nacht zerstört. In Erinnerung an diese Synagoge hat auch die neue Synagoge am Jakobsplatz ihren Namen bekommen, in der die Gedenkfeier zu Jom Haschoa stattfand.
Cramer war damals mit seiner Mutter ins benachbarte München gefahren, um einen Mantel zu kaufen, »denn in meiner Heimatstadt waren alle derartigen jüdischen Geschäfte bereits ›arisiert‹, wie man damals den Zwangsverkauf bezeichnete«.
Während seine Mutter am Abend nach Augsburg zurückkehrte, fuhr Ernst Cramer in ein Auswanderungslehrgut nach Schlesien, wurde nahe Breslau aufgegriffen und in das KZ Buchenwald verschickt. »Die absolute Rechtlosigkeit, das totale Ausgeliefertsein und die Unbill, die wir alle erleiden mussten«, machte der Zeitzeuge mit wenigen Worten exemplarisch deutlich. Er berichtete vom Morgen des 10. November 1938, als sein Vater verhaftet wurde: Dabei wurden »seine wertvolle Bibliothek konfisziert und sein geliebtes Cello zertrümmert. Aber damit nicht genug: Die Häscher zerschlugen auch die erlesene kleine Porzellansammlung, die sich meine Mutter vom Mund abgespart hatte«. »Dass es nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu noch viel Entsetzlicherem, zu noch viel Schaurigerem kommen sollte«, konnte sich der damals 25-jährige Cramer nicht vorstellen. Das Beispiel einer Gebärenden im östlichen Polen im September 1942, die auf einem Müllplatz zur Schau gestellt wurde und deren Neugeborenes dann brutal von der Menge zertrampelt wurde, trug er selbst nur »mit widerwilligem Zaudern« vor.
Bewusst erinnerte Cramer am Jom Haschoa auch an die Sinti und Roma, an die Behinderten, Homosexuellen, politisch anders Denkenden und Kriegsgefangenen, die von der damaligen deutschen Mordindustrie vernichtet, umgebracht wurden. Der mutige Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 sei von der Außenwelt zu deren Schande nur am Rande oder einfach gar nicht zur Kenntnis genommen worden.
All die Verbrechen der Nazis waren so grauenerregend, »weil sie bekundet und bewiesen haben, dass nichts, was wir zur Zivilisation zählen – gute Ausbildung, Wohlstand, Modernität, technischer Fortschritt, bessere Lebensbedingungen – uns vor der dunklen Seite des menschlichen Seins bewahren kann«, so Cramer.
Heute ist es beinahe unerklärlich, »warum wir Juden damals die tödliche Gefahr erst viel zu spät erkannten«. Dafür höre er jetzt umso genauer zu, wenn sich Judengegner äußerten: Er glaubt Mahmud Ahmadinedschad, wenn er die Israelis aus dem Nahen Osten vertreiben will. Und er nimmt den in ganz Europa aufflammenden Antisemitismus ernst, der jetzt wieder ganz offen zu Tage tritt.
Die Schlussfolgerung aus dem Gestern für das Heute überließ Cramer mit seinen Schlusssätzen den Zuhörern selbst: »Viele fragen immer wieder«, so der auch als 94-Jähriger noch immer sehr engagierte Zeitzeuge und Demokrat, »wo war eigentlich Gott damals? Aber das ist die falsche Frage. Die richtige lautet: Wo war der Mensch?«

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