von Lisa Borgemeister
Schon von Weitem winkt die junge Frau schwungvoll mit beiden Armen. Schnellen Schrittes eilt sie durch die Fußgängerzone, die linke Hand umschließt fest den Griff eines Geigenkoffers. »Der Stau...«, sagt sie entschuldigend und zuckt mit den Schultern. Als Treffpunkt hat sie ein traditionelles Café in der Innenstadt gewählt, das Ambiente erinnert an ein großelterliches Wohnzimmer. Zielstrebig steuert Sarah Spitzer einen Tisch im hinteren Teil des Cafés an, legt ihren Mantel ab und den Geigenkoffer dicht neben sich. Dann bestellt sie einen Milchkaffee und fängt an, von ihrem Leben als Violinistin zu erzählen.
Das Wunderkind-Klischee erfüllt Sarah Spitzer nicht. Im Gegenteil: Die Wiesbadenerin findet es erschreckend, wenn Kinder schon mit zwei oder drei Jahren an ein Instrument gezwungen werden, damit sie hinterher der Konkurrenz standhalten. Sie selbst entdeckte ihre Liebe zur Musik mit acht Jahren, auf einem Flohmarkt. »Da lag diese Geige, ein tschechisches Fabrikerzeugnis, und ich wollte sie unbedingt haben.« In einem blauen Müllbeutel brachte sie die Errungenschaft sicher nach Hause.
Danach ging alles sehr schnell. Das Mädchen nahm täglich drei bis vier Stunden Geigenunterricht und beherrschte bereits nach einem Jahr das Vibrato-»Zittern«, wie sie es damals nannte. Mit elf Jahren kam sie als Jungstudentin an die Budapester Musikakademie.
Geboren ist Sarah Spitzer 1984 in Hamburg. Als sie drei war, zog die Familie nach Wiesbaden, im Alter von elf Jahren ging es weiter nach Budapest. Weil es in Ungarn keine Schulbesuchspflicht gibt, konnte sie sich intensiv dem Geigenunterricht widmen. Lediglich die Prüfungen musste die Heranwachsende bestehen, gelernt hat sie dafür zu Hause. Heute lebt die 22-Jährige wieder in Wiesbaden. Ob Deutschland oder Ungarn – »Zu Hause ist für mich dort, wo meine Familie ist«, sagt Spitzer. Sie sagt noch mehr, erzählt von Mentalitätsunterschieden und politischen Stimmungen, schildert ihre Eindrücke vom aktuellen Geschehen in Ungarn und Deutschland. In der Zeitung möchte sie das aber eigentlich nicht lesen: »Als Künstlerin sollte man sich nicht einmischen.«
Wenn man sich mit Sarah Spitzer unterhält, neigt man leicht dazu, ihr Alter zu vergessen. Selbstbewusst und energisch gibt sich die junge Frau und unterstreicht ihre Erzählungen mit ausdrucksstarken Gesten. Jedes Wort ist wohl überlegt. Verwunderlich ist das nicht: Soweit sich Sarah Spitzer zurückerinnern kann, fast nie hatte sie Kontakt zu Gleichaltrigen. Immer war sie ihrem Alter ein Stück voraus und arbeitete mit Erwachsenen zusammen.
Mitglied einer jüdischen Gemeinde ist Spitzer nicht. Das liege auch daran, dass sie zwischendurch im Ausland gewesen sei, sagt sie. Mehr will sie dazu nicht sagen. »Wir leben sehr bewusst und beschäftigen uns mit dem Thema Jüdischsein, aber religiös sind wir nicht.« Als Künstlerin wäre es vermutlich auch sehr schwer, fügt sie nachdenklich hinzu. »Dann dürfte ich zum Beispiel samstags noch nicht einmal E-Mails schreiben.« Dennoch engagiert sie sich, auch in den Gemeinden. »Es ist sehr wichtig, dass man als Jude in Deutschland seine Wurzeln nicht vergisst«, sagt sie. Und sie will als jüdische Künstlerin dazu einen Beitrag leisten. So zum Beispiel, wenn sie mit dem Autor und Schauspieler Armin Mueller-Stahl zusammen auf der Bühne steht. »Der Kontakt kam eher zufällig zustande«, erzählt Spitzer. Nach der Lektüre eines Buches entschloss sie sich kurzerhand, Müller-Stahl einen Brief zu schreiben. Eine CD mit eigenen Aufnahmen legte sie gleich dazu. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Der Autor lud Sarah Spitzer ein, ihn bei seinen Lesungen mit der Geige zu begleiten. Das war im vergangenen Sommer. »Ich bin immer wieder fasziniert von der feinfühligen Art, mit der er an das Thema Holocaust herangeht.«
Derzeit widmet sich die junge Künstlerin ihrer Solo-Karriere. Die erste Fabrikgeige ist längst einem teuren Instrument gewichen. Die Flohmarkt-Violine liegt aber immer noch im Schrank, wenn auch ungespielt. »Die gebe ich nicht mehr her«, sagt die 22-Jährige und lächelt.