Manfred Gailus

»Ein Großteil der Pfarrer war für die Selektion«

Herr Gailus, Sie schreiben in ihrem Buch »Kirchliche Amtshilfe« über die Rolle der Kirche bei der Verfolgung der »nichtarischen Christen«. Wie groß war sie?
gailus: Zu den etwa 500.000 sogenannten Glaubensjuden, die über ihre Zugehörigkeit zu den Jüdischen Gemeinden leicht zu identifizieren waren, kamen die übrigen »Nichtarier«. Dieser Kreis umfasst Personen jüdischer Herkunft, die inzwischen Christen geworden waren. Hinzu kommen noch die Konfessionslosen jüdischer Herkunft und »Mischlinge«, »Halbjuden«, »Vierteljuden«. Nicht zu vergessen jene, die in Mischehen lebten. Zusammen mit den »Glaubensjuden« sprechen wir insgesamt also von deutlich über einer Million Betroffener. Allerdings hatten auch die Nazis keine genauen Zahlen. Präzise nachzuweisen waren die christlichen »Nichtarier« nur über die Kirchenbücher.

Die Kirche hatte also den entscheidenden Schlüssel in der Hand?
gailus: Ja, denn sie war im Besitz der Kirchenbücher. Die gingen bis ins 18. Jahrhundert und weiter zurück. Und diese familiengeschichtliche Rückwärtserforschung war erfor-
derlich, um sagen zu können, ob eine in der Gegenwart lebende Person »arisch« oder »nichtarisch« war.

Betraf das nur die Evangelische Kirche?
gailus: Nein, die Katholische Kirche ist ähnlich verfahren und hat aus ihren Kirchenbüchern entsprechende Informationen zur Verfügung gestellt. Und natürlich gab es auch katholische Theologen, die Mitglied in der NSDAP waren. Eigene Vorleistungen in der Sippenforschung zu erbringen, um sich in den Augen der Machthaber besonders verdient zu machen, scheint mir aber ein typisches Zeichen für die Evangelische Kirche zu sein. Ich denke da etwa an den Berliner Pfarrer Karl Themel, der mit großer Akribie und zahlreichen Mitarbeitern eine eigene Sippenkanzlei (»Kirchenbuchstelle Alt-Berlin«) erstellte.

Ohne Hilfe der Kirchen hätten die Nazis die »nichtarischen« Christen also kaum verfolgen können?
gailus: Mit äußerster Gewaltanwendung hätte sich der Staat die Kirchenbücher natürlich aneignen können, aber die Nazis hätten das aus Angst vor einer Spaltung der »Volksgemeinschaft« kaum gemacht. Letztlich hätte das ja die Festigkeit des Regimes als Ganzes infrage gestellt.

War den Pfarrern bewusst, welche Konsequenzen das für die Betroffenen hatte?
gailus: Dass man mit diesen Unterlagen zum Ausschluss aus der »Volksgemeinschaft« beitrug und schlimme Familienschicksale heraufbeschwor, dass alles konnte und musste ein Pfarrer wissen. Dass die Sache lebensgefährlich war und schließlich tödliche Ausmaße annehmen konnte, war spätestens nach der Pogromnacht 1938 zu ahnen. Man hat ja mit eigenen Augen gesehen, was denjenigen zugedacht war, die als »nichtarisch« galten.
Welche Konsequenzen hätte eine Falschauskunft gehabt? Ist das von der Gestapo überprüft worden?
gailus: Nein, im Allgemeinen nicht, es gab ja viel zu viele solcher Unterlagen, Hunderttausende, Millionen von Kirchenbuchauszügen. Niemand konnte das alles nachprüfen. Allein schon die Arbeit für diese Nachweise war enorm, viele Pfarrer stöhnten bereits und sagten, sie hätten schon Albträume von schlecht entzifferbaren Eintragungen in Kirchenbüchern.

Die Möglichkeit, entscheidende Informationen zurückzuhalten oder zu fälschen, war also gegeben?
gailus: Im Prinzip ja. Wenn ein Pfarrer verdächtigt wurde, unvollständige Angaben gemacht zu haben, dann wäre er dafür nicht ins KZ gekommen. Wenn Pfarrer belangt wurden, dann wegen anderer Dinge. Nach dem allgemeinen Strafrecht wäre es schwierig gewesen, Pfarrer oder andere kirchliche Mitarbeiter hier zu belangen. Innerkirchlich wäre auch nicht so schrecklich viel daraus erfolgt.

Warum wurden dann nur in seltenen Fällen entscheidende Informationen zurückgehalten?
gailus: Ein Großteil der Pfarrer fand es eben richtig. Die wollten die völkische Selektion im Deutschen Reich haben. Andere fanden es zwar nicht unbedingt richtig, wollten aber auch der Obrigkeit nicht widerstehen. Und die übrigen, die mehr zur Bekennenden Kirche zählten, handelten im Allgemeinen auch eher obrigkeitskonform. Das lag ja gewissermaßen in der protestantischen Mentalität und war eben zutiefst verinnerlicht. Nur in wenigen Ausnahmen kam es zu solchen Unterschlagungen von gefährlichen, für die Betroffenen folgenschweren Informationen.

Was wäre passiert, wenn die Kirche an dieser Stelle nein gesagt hätte?
gailus: Wenn beide Kirchen geschlossen diese Informationen nicht herausgerückt hätten, dann wäre die lückenlose Erfassung der »Nichtarier« kaum möglich gewesen. Das wäre ein sehr schwerer Konflikt zwischen den Kirchen und dem Staat gewesen. Und man kann zumindest zweifeln, ob die Nazis diese schwere Konfrontation wirklich gewollt hätten.

Hat die Kirche ihre Christen jüdischer Herkunft ans Messer geliefert?
gailus: Das ist scharf formuliert. Ich würde sagen, sie haben sie den Verfolgern preisgegeben, indem sie geholfen haben, diese überhaupt erst zu erkennen.

Das Gespräch führte Carsten Dippel.

manfred gailus (hg.): kirchliche amtshilfe. die kirche und die judenverfolgung im »Dritten Reich«
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, 223 Seiten, 19,90 Euro

Braunau

Streit über belastete Straßennamen im Hitler-Geburtsort

Das österreichische Braunau am Inn tut sich weiter schwer mit seiner Vergangenheit. Mehrere Straßen tragen nach wie vor die Namen bekannter NS-Größen. Das soll sich nun ändern

 13.02.2025

Bund-Länder-Kommission

Antisemitismusbeauftragte fürchten um Finanzierung von Projekten

Weil durch den Bruch der Ampel-Koalition im vergangenen Jahr kein Haushalt mehr beschlossen wurde, gilt für 2025 zunächst eine vorläufige Haushaltsplanung

 12.02.2025

Österreich

Koalitionsgespräche gescheitert - doch kein Kanzler Kickl?

Der FPÖ-Chef hat Bundespräsident Van der Bellen über das Scheitern der Gespräche informiert

 12.02.2025

Düsseldorf

Jüdische Zukunft: Panel-Diskussion mit Charlotte Knobloch

Auf dem Podium sitzen auch Hetty Berg, Armin Nassehi und Philipp Peyman Engel

 11.02.2025

Sport

Bayern-Torwart Daniel Peretz trainiert wieder

Der Fußballer arbeitet beim FC Bayern nach seiner Verletzung am Comeback

 09.02.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  05.02.2025

USA/Israel

Trump empfängt Netanjahu im Weißen Haus

Als erster ausländischer Staatsgast in Trumps zweiter Amtszeit kommt der israelische Regierungschef nach Washington. In dem Republikaner hat der israelische Besucher einen wohlwollenden Unterstützer gefunden

 04.02.2025

Düsseldorf

Igor Levit: Bin noch nicht fertig mit diesem Land

Am Klavier ist er ein Ausnahmekönner, in politischen Debatten meldet er sich immer wieder zu Wort. 2020 erhielt der jüdische Künstler das Bundesverdienstkreuz - das er nun nach eigenen Worten fast zurückgegeben hätte

 03.02.2025

Berlin

Kreise: Union will Gesetz doch zur Abstimmung stellen

Hinter verschlossenen Türen wurde in den Unionsparteien viel über das »Zustrombegrenzungsgesetz« gesprochen. Nun gibt es laut Teilnehmern eine Entscheidung

 31.01.2025