von Sylke Tempel
Stellen wir uns für einen Moment mal ganz dumm und nehmen an, es gäbe so etwas wie Vernunft im Nahen Osten. Dann sähe die Lage gar nicht so schlecht aus.
Dass die fundamentalistische Hamas den Gasastreifen erobert hat, führte zu einem Schritt, der schon vor Jahren fällig gewesen wäre: Der palästinensische Präsident Machmud Abbas begann, die Hamas-Milizen in der West Bank zu entwaffnen. Salem Fayed, Premierminister der neu gebildeten Notstandsregierung in der West Bank, ist kein hausgebackener Guerilla, der nur in Kategorien des militärischen Widerstands denken kann. Er war jahrelang hochrangiger Diplomat der Weltbank, gilt als ebenso professionell wie unbestechlich und genießt das Vertrauen vieler Palästinenser, der Israelis und ausländischer Regierungen. Niemand in der palästinensischen Politikerriege weiß so gut wie Fayed, welche Voraussetzungen nötig sind, wollen die Palästinenser endlich ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen: Wer auch immer regiert, muss mit allen Kräften für ein Gewaltmonopol des künftigen Staates sorgen. Nach den Milizen der Hamas müssen Abbas und Fayed nun auch die zahlreichen, mit der Fatah verbandelten Gangs entwaffnen, die nach Gutdünken schalten und walten. Erst, wenn eine palästinensische Regierung glaubwürdig für Ruhe und Ordnung sorgen kann, sind Verhandlungen sinnvoll. Und nur Verhandlungen werden den Palästinensern den ersehnten Staat ermöglichen.
Warum sollte das klappen? Weil sich den West-Bank-Bewohnern in Gasas »Hamastan« ein ebenso klares wie deprimierendes Bild bietet: Die Fundamentalisten mögen fähig sein, Wohlfahrtseinrichtungen zu organisieren, die immer auch Stätten der Indoktrination sind. Aber sie sind auch der Palästinenser größter Feind. Jeder Dissens wird im Keim erstickt; Hamas mag reichlich Spenden von »netten Freunden« wie dem Iran einsammeln, hat aber keine Ahnung, wie sie eine funktionierende Wirtschaft auf die Beine stellen soll. Und sie will gar keinen palästinensischen Staat, sondern eine Mullahkratie vom Mittelmeer bis in die Arabische Wüste. Die Trennung Gasas von der West Bank ist keine schlechte Zwei-Staaten-Lösung. »Hamastan« kann man getrost abschreiben. Dafür sollten alle Beteiligten beim Aufbau einer verlässlichen In- frastruktur in »Fatahstan« helfen.
Auch auf israelischer Seite ergäben sich Chancen. Ehud Barak feiert eben sein politisches Comeback als Chef der Arbeitspartei. Mit dem Posten des Verteidigungsministers wird er sich auf Dauer nicht zu- frieden geben. Sollte ihm die Rückkehr ins Amt des Premiers gelingen, weiß er wenigstens, wie ein Verhandlungsergebnis aussehen soll; er hat es vor sechs Jahren in Taba unter der Ägide des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton ausgearbeitet. Die Mehrheit der Israelis würde ohnehin lieber heute als morgen die West Bank aufgeben, sofern eine palästinensische Regierung für Ruhe sorgen kann. Aber dafür müsste Jerusalem Präsident Abbas und Premier Fayed wesentlich mehr entgegenkommen als bisher. Noch immer sitzen in israelischen Gefängnissen Hunderte Palästinenser, deren Freilassung kein Sicherheitsrisiko darstellt, aber ein positives Zeichen setzen würde. Am wichtigsten aber wäre ein kompletter Stopp jeglichen Siedlungsbaus. Die Palästinenser werden den Israelis niemals gute Absichten unterstellen, solange ihr Land vor ihren Augen dahinschwindet.
Und international? Die Bush-Administration ist bis zu den nächsten Wahlen im November 2008 eine »lahme Ente«. Aber keine US-Regierung, sei es noch unter George W. Bush, oder unter einem neuen demokratischen oder republikanischen Präsidenten, wird sich die Chance entgehen lassen, zwischen Israelis und Palästinensern einigermaßen für Ruhe zu sorgen. Schon allein, um wieder Glaubwürdigkeit im »Rest« der Region zu erringen. Mit Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy als Regierungschefs der wichtigsten EU-Staaten scheint es auch vorbei zu sein mit der blinden europäischen Solidarität für die Palästinenser und der Bereitschaft, sich gegen die USA ausspielen zu lassen.
Wichtiger jedoch sind die Entwicklungen in der Region. Die Saudis führten es vor mit ihrer Initiative und der Bereitschaft, Israel anzuerkennen. Es scheint sich die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass der Iran derzeit ein größerer Feind ist als Israel. Niemand kann daran Interesse haben, dass Teheran mit seiner Unterstützung der Hamas und Hisbollah nicht der palästinensischen Sache dient, sondern nur einen Krieg zwischen Sunniten und Schiiten anheizt und die Region destabilisiert.
Gäbe es im Nahen Osten nur ein wenig Vernunft, könnte aus Aussichtslosem doch Gutes entstehen. Aber wann herrschte in dieser Region schon mal die Vernunft?