Charlotte Knobloch

»Die Herzen der Menschen erreichen«

Frau Knobloch, Glückwunsch! Am heutigen 9. November wird das neue Gemeindezentrum in München eröffnet. Was ist das für ein Gefühl?
knobloch: Der 9. November – den wir bewußt als Datum für die Einweihung gewählt haben – ist für mich natürlich immer mit einem sehr bedrückenden Gefühl verbunden. Schließlich habe ich die Ereignisse 1938 als Kind selbst miterlebt. Aber in diesem Jahr ist das Datum mit einem ausgesprochenen Glücksgefühl verbunden, weil ich endlich einen Traum realisieren konnte, den ich seit Mitte der achtziger Jahre habe. In der Vergangenheit gab es auch in der Gemeinde Skepsis. Anfangs haben viele gedacht: Sie hat kein Grundstück und kein Geld, was will sie denn eigentlich? Nun können wir die neue Hauptsynagoge und unser Gemeindezentrum feierlich eröffnen. Ich kann die Freude, die ich empfinde, kaum ausdrücken: Ein Traum ist in Erfüllung gegangen.

Wie schafft man es, ein solches Großprojekt in die Tat umzusetzen?
knobloch: Mit Beharrlichkeit, Ausdauer und viel Antichambrieren.

Dazu braucht man gute Beziehungen.
knobloch: Ja, aber die hat man zu Anfang nicht. Ich bin vor mehr 20 Jahren zur Präsidentin der Gemeinde gewählt worden. Damals habe ich weder daran gedacht, ein solches Amt anzustreben, noch es anzunehmen. Ich kam nicht aus der Politik, ich kam aus dem Privatleben. Ich mußte mir die Beziehungen erst aufbauen. Und dann bin ich gleich mit einem solchen Projekt gekommen. Wenn der jetzige Oberbürgermeister, Christian Ude, meinen Wunsch nicht zu seiner Chefsache gemacht hätte, dann wäre er nicht in Erfüllung gegangen.

Gab es auch Vorbehalte von nichtjüdischer Seite?
knobloch: Ja, natürlich. Damals kam ich zu den Behörden als jemand, der eine Synagoge und ein Gemeindezentrum bauen will, aber über keine finanziellen Mittel dafür verfügt. Da habe ich schon so etwas wie Mitleid gespürt. Später gab es dann wiederum in der Gemeinde Stimmen, die meinten, ich wolle eine Art Fort Knox bauen, in das sich keiner hineintrauen würde. Das hat sich gelegt. Die Kritiker von damals sind begeistert und freuen sich über diesen Tag.

Der Bau in dieser zentralen Lage ist auch ein Bekenntnis zur Stadt, in der Sie leben. Sie haben schon mehrfach davon gesprochen, daß Sie nach vielen Jahren jetzt endlich die Koffer auspacken könnten. Auch dafür gab es vereinzelt Kritik.
knobloch: Ich toleriere solche Einwände und habe auch Verständnis dafür. Aber ich sehe schon lange eine Gemeinde, deren Infrastruktur nicht mehr ausreicht – vom Kindergarten bis zum Seniorenheim. Und wenn man sieht, wie die Gemeinde Monat für Monat mit der Zuwanderung wächst, dann ist man in der Verantwortung. Ich habe als Vorsitzende der zweitgrößten jüdischen Gemeinde Deutschlands eine Verpflichtung übernommen. Dazu gehört, daß man nicht nur in der Mitte der Stadt ankommt, sondern daß man auch die Herzen der Menschen erreicht.

Nun steht die Architektur, aber wie füllt man ein Gemeindezentrum mit Leben?
knobloch: Da sehe ich kein Problem. Die Synagoge wird durch ihren sehr modernen und zeitgemäßen Baustil einerseits Bewunderung, andererseits Kritik hervorrufen. Sie wird aber auf jeden Fall eine große Anziehungskraft ausüben, auch auf Gemeindemitglieder, die sonst seltener in eine Synagoge gehen. Ich glaube, daß dieses Ambiente einen Anreiz darstellt, die Synagoge nicht nur an den Hohen Feiertagen, sondern auch an einem ganz normalen Schabbat oder zu anderen Anlässen zu besuchen.

Und das Gemeindezentrum?
knobloch: Da habe ich eher die Sorge, daß es schon bald wieder zu klein sein wird. Aber im Gegensatz zu unserer jetzigen Situation wird das Gemeindehaus sämtliche Einrichtungen beinhalten, die bislang über die ganze Stadt verstreut waren – Babyclub, Kindergarten, Schule, Jugendzentrum. Das bringt schon mal Leben. Dann gibt es dort auch ein hervorragendes Restaurant. Und mit dem Hubert-Burda-Saal haben wir den größten Veranstaltungsraum der Innenstadt. Es soll – darauf lege ich sehr großen Wert – ein offenes Haus sein. Es gibt immer noch viele Klischees und Vorbehalte. Das soll keine Schuldzuweisung sein. Sie sind einfach vorhanden, weil man uns kaum kennt. Ich höre immer wieder: Wir wissen, es gibt Juden in München, aber wo seid ihr denn, man kann euch ja nicht finden. Das wird ein Ende haben. Wir sind da, mitten in der Stadt. Wir wollen den Dialog, um für die Zukunft vorzubauen.

Ist das Gemeindezentrum ein Schritt auf dem Weg in die vielbeschworene deutsch-jüdische Normalität?
knobloch: Mit dem Begriff Normalität bin ich in diesem Zusammenhang etwas zurückhaltend. Ich würde das als ein Schritt hin zu einem Miteinander bezeichnen. Bislang haben wir doch eher ein Nebeneinander. Die Normalität wird wahrscheinlich in der nächsten Generation Fuß fassen. Aber noch ist sie nicht vorhanden.

Zur derzeitigen Situation gehört auch, daß wir fast täglich rechtsextremistische Übergriffe und antisemitische Pöbeleien erleben. Was läuft falsch in diesem Land?
knobloch: In diesem Land läuft falsch, daß wir die Dinge nicht ernst nehmen. Die Vorfälle werden bagatellisiert. Man äußert Entsetzen, man spricht von Betroffenheit, aber es geschieht gar nichts. Hier müssen die Verantwortlichen, die Parteien und die Regierungen, endlich aufwachen. Bund, Länder und Kommunen müssen einen Weg finden, um vor allem der Jugend klarzumachen, wohin dieser falsche Weg von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit führt. Dazu kommt die Politikverdrossenheit. Mir ist es unverständlich, warum man sich da keine Gedanken macht, oder die nicht in die Tat umsetzt, um vorzubeugen. Ich war vor kurzem in Magdeburg. Dort sagte Ministerpräsident Wolfgang Böhmer, Betroffenheit genüge nicht mehr, jetzt müsse man endlich etwas unternehmen. Sein Innenminister sagte, er brauche professionelle Hilfe. Man hätte aber schon längst handeln müssen! Das Tagebuch der Anne Frank wurde im Sommer in Pretzien verbrannt. Es gab viele weitere antisemitische Vorfälle. Immer muß erst etwas passieren, damit die Menschen aufwachen. Der Zentralrat hat die Aufgabe, hier einzuhaken und die Politik darauf aufmerksam zu machen, wie gefährlich die Situation momentan ist.

Brauchen wir den Aufstand der Anständigen?
knobloch: Der Aufstand der Anständigen ist natürlich notwendig. Für mich ist es wichtig, daß sich die Bürger in den Städten und Dörfern aus innerer Überzeugung gegen den Rechtsextremismus wenden. Daß sie dazu nicht erst aufgefordert werden müssen, sondern wissen, daß sie sich dieser gefährlichen Entwicklung entgegenstellen müssen. Ich bin beunruhigt darüber, daß andere Themen in den Medien einen größeren Stellenwert haben, als diese Gefahr, die sehr schnell zu einem Flächenbrand werden kann.

Ist dieses Gedankengut schon so weit in die Gesellschaft eingesickert, daß sich deshalb niemand mehr aufregt?
knobloch: Es gibt gebietsmäßige Unterschiede. Und es gibt eingefleischte Antisemiten, die wir niemals überzeugen werden. Wir müssen uns darauf konzentrieren, die jüngeren Menschen aufzuklären, mit ihnen den Dialog zu führen. Da ist die Glaubwürdigkeit von Zeitzeugen sehr wichtig. Sie stehen uns nur noch im begrenzten Maß zur Verfügung.

Während des Libanonkrieges haben Sie verschiedenen führenden Politikern vorgeworfen, eine antijüdische Stimmung zu schüren. War das übertrieben?
knobloch: Ich habe ganz bestimmte Politiker angesprochen, deren Haltung gegenüber Israel und gegenüber der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland schon vor dem Libanonkrieg zu beklagen war. Schon vor dem Krieg gab es Äußerungen, die mir absolut nicht gefallen haben. Daß so etwas einfach unbeantwortet blieb, hat mich persönlich sehr getroffen.

Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit. Wie wird das von Zuwanderern erlebt?
knobloch: Solche Erfahrungen können sie manchmal gar nicht umsetzen. Und sie haben kein Verständnis dafür, daß wir als Verantwortliche diese Dinge nicht abschalten können. Sie haben in einer anderen Welt gelebt. Sie wurden in ihrer alten Heimat wahrscheinlich auch nicht genügend über dieses Phänomen informiert. Aber jetzt spüren sie eine unangenehme Stimmung bei der Arbeits- oder Wohnungssuche. Sie merken schon, daß sie als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Das führen sie auf ihr Judentum zurück. Da muß den Zuwanderern geholfen werden. Sonst haben sie doch hier keine Zukunft.

Was können die Gemeinden und der Zentralrat tun, um den Zuwanderern eine Zukunft zu geben?
knobloch: Wir müssen ihnen das Gefühl geben, daß sie willkommen sind. Man sieht, daß es kleine, überschaubare Gemeinden sehr viel schneller schaffen, ihre neuen Mitglieder einzugliedern. Zumindest gelingt es ihnen, die Zuwanderer für das Gemeindeleben zu interessieren. Die großen Gemeinden müssen auf die Medien zurückgreifen, um die Menschen zu erreichen. Wichtig ist: Wir müssen mehr auf die Menschen zugehen, ihnen signalisieren, daß wir helfen. Dazu brauchen wir natürlich die Unterstützung der öffentlichen Hand. Von nichts kommt nichts. Ich sage immer wieder, daß ich dankbar bin, daß die Menschen kommen können. Aber wir brauchen die entsprechenden Mittel, sie so einzugliedern, daß sie hier ihr Leben aus eigener Kraft gestalten zu können. Das ist auch im Interesse der deutschen Gesellschaft.

Worauf kommt es dabei an?
knobloch: Man darf nicht versuchen, den Zuwanderern ihre Kultur wegnehmen zu wollen. Mir fallen dann immer die Emigranten der dreißiger Jahre ein. Als sie zum Beispiel in Amerika waren, sind sie bis zu ihrem Tod der deutschen Kultur eng verbunden geblieben. Sie waren Amerikaner, sie waren ihrem neuen Heimatland ungemein dankbar, daß sie aufgenommen wurden. Aber sie wollten ihre Kultur behalten. Natürlich sind unsere russischsprachigen Zuwanderer unter ganz anderen Umständen zu uns gekommen. Aber man darf ihnen ihre Kultur nicht nehmen. Die Zuwanderer sind nicht nur ein Gewinn für die Gemeinden, sondern auch für die deutsche Gesellschaft. In allen Bereichen, ob Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst. Ihre Integration ist eine große Aufgabe. Es gibt im Zentralrat und den Gemeinden genügend Menschen, die in der Lage sind, dies gemeinsam mit der öffentlichen Hand zu schaffen.

Das Gespräch führten Christian Böhme und Detlef David Kauschke.

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