Nina Larina

»Das Leben hier ist angenehm«

von Daniela Breitbart

Energisch räumt Nina Larina die Vase auf dem schmalen Couchtisch zur Seite. Sie braucht Platz, Platz für Bücher und einen Aktenordner mit persönlichen Dokumenten. »Sprechen Sie Englisch?«, fragt sie. Es ist wohl eher eine rhetorische Frage, denn die zierliche, knapp 1,50 Meter kleine Frau spricht fast fehlerfrei Deutsch. Das hat sie sich im Laufe der acht Jahre, die sie nun in Deutschland ist, im Selbststudium beigebracht. »Für die Sprachschule sind wir schon zu alt«, sagt Nina und lacht. Als ehemalige Sprachlehrerin dürfte es ihr nicht allzu schwer gefallen sein, Deutsch zu lernen. Nach und nach erzählt sie ihre Geschichte, wobei sie sich immer wieder unterbricht, ihren graublonden Pagenkopf schüttelt, nach Worten ringt. Hastig blättert sie in den Papieren wie auf der Suche nach Beweisen für etwas, was sie kaum selber für möglich halten kann: die Geschichte einer wunderbaren Rettung.
Nina Larina wird 1934 in Kursk geboren. Ihr Vater ist Rechnungsführer in einem Nutzholzlager, ihre Mutter arbeitet bei einer Zeitung. Bei Kriegsbeginn wird der Vater zur Armee einberufen, Nina bleibt mit ihrer Mutter und deren jüngerer Schwester Lida alleine. Sie graben Löcher, um sich zu verstecken. »Einmal fiel Mutter in ein Loch und brach sich ein Bein«, erinnert sich Nina. Später verstecken sie sich zusammen mit vielen alten Leuten und Kindern in einem Zirkus. »Das war ein sehr großes Gebäude, und wir fühlten uns außer Gefahr«, sagt Nina. Dann, im Spätherbst 1941, besetzen deutsche Truppen die Stadt. Die Bewohner werden aus den Kellern und Verstecken gejagt, in denen sie Zuflucht vor Bomben und Gewalt gesucht hatten. Die Juden werden gezwungen, einen gelben Stern zu tragen. »Da verstanden viele Leute, dass bald ein großes Unglück kommt«, sagt Nina und stockt. Nur mühsam bekämpft sie die Tränen, bevor sie weiterspricht. Als eines Tages ein schwarzer Wagen mit vergitterten Fenstern vor dem Haus hält, schickt Lida ihre Nichte zu einer befreundeten Familie, den Dudins. Sie hatten versprochen, Nina zu helfen, falls ihrer Mutter und Lida etwas passieren würde. »Ich durfte mich am Ofen wärmen und in einem Bilderbuch blättern. Für mein ganzes Leben prägten sich dieser Tag und die Abbildungen in dem Buch in mein Gedächtnis ein«, sagt Nina. Sie bleibt bei der Familie, die sich damit in große Gefahr bringt. Denn die sogenannte »Judenhehlerei« wird streng bestraft. »Doch Nikolaj Dudin sagte: ›Gott schickt mir eine Menschenseele, die ich retten muss. Und ich werde sie retten.‹« Nina hat Glück. Zwei Mal wird sie in den Gewahrsam der Gestapo gebracht, und beide Male kann Dudin sie befreien – er hatte Nina als seine Nichte in seinem Pass eingetragen. »Das war sehr wichtig«, sagt Nina und nickt eifrig. Dann blättert sie konzentriert in dem Ordner, zeigt auf ihre »zweite« Geburtsurkunde, ausgestellt von Nikolaj Dudin.
Als die Deutschen Kursk im Februar 1943 verlassen, beginnt die Stadt wieder zu leben. Da ist Nina gerade mal neun Jahre alt. Sie bekommt Windpocken, die sie schnell übersteht. Dann wird sie gegen Skorbut behandelt. Sie muss rohe Kartoffeln essen, Fichtennadeln kauen und ihren Mund mit einer Kaliumpermanganat-Lösung ausspülen. »Ich wurde gerettet, ich habe noch alle Zähne«, sagt sie und lacht. Nina kommt direkt in die zweite Klasse der Grundschule, Schreiben und Rechnen bringen ihr der Vater Dudin und Isabella bei, die ältere Tochter der Dudins. Dann kommt der 9. Mai 1945, der Tag der Befreiung. »Nie werde ich diesen Tag vergessen«, sagt Nina. »Die Orchester spielten, und alle Menschen sangen und weinten.« Bald kehrt Ninas Vater nach Kursk zurück und nimmt seine Tochter mit nach Kiew. Sie erfahren, dass die Juden in verschiedenen Orten verhaftet und erschossen wurden.
Nina besucht die Schule und studiert anschließend Englisch und Französisch. Von 1956 bis 1990 arbeitet sie als Lehrerin in Kiew. 1961 heiratet sie ihren Schulfreund William und bekommt einen Sohn. Von ihren Rettern ist heute nur noch Isabella am Leben. Sie wohnt in Moskau. Die Namen der Familie Dudin sind an der Ehrenwand in Yad Vashem eingraviert, sagt Nina, sie bekamen den Ehrentitel »Gerechte unter den Völkern« verliehen.
Als Nina ihre Geschichte beendet, kommt ihr Ehemann ins Zimmer, serviert Kaffee, Kekse und Trauben. Nina greift beherzt zu. Viele Jahre sind vergangen, aber immer noch träumt die heute 73-Jährige vom Krieg und dem Leid. »Die Erinnerung regt mich bis heute auf und lässt mir keine Ruhe.«
Nina hat einen Weg gefunden, mit der Vergangenheit umzugehen: Wieder und wieder erzählt sie ihre Geschichte, schreibt sie auf. Vor drei Monaten war sie im Schiller-Gymnasium eingeladen. Dort teilte sie ihre Erlebnisse mit israelischen Austauschschülern. »Die waren sehr aufmerksam und stellten viele Fragen. Ich habe es genossen, im Mittelpunkt zu stehen.« Vor zehn Jahren gab Nina Steven Spielberg ein Interview, sprach ihre Geschichte auf Kassette, für die »Bibliothek der Erinnerungen« im Holocaust-Museum in Los Angeles. Stolz präsentiert sie Spielbergs Dankschreiben. Auch das ist säuberlich in dem Ordner abgeheftet. Außerdem ist Nina Mitglied von »Sikaron Schoa«, einer Kiewer Organisation von Juden, die die Gefangenschaft in Konzentrationslagern und Ghettos überlebt haben. Mit ihr unternahm sie 1995 eine Reise nach Polen, anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Befreiung der Häftlinge des Warschauer Ghettos.
Seit Dezember 1998 lebt Nina mit ihrem Mann in Königs Wusterhausen. Sie kamen nach Deutschland, um bessere Behandlungsmöglichkeiten für ihren Sohn zu bekommen. Dem 42-jährigen Vadim, der als Masseur in einer Geburtshilfeklinik arbeitete, platzte 1994 ein Blutgefäß im Kopf. Bei der anschließenden OP trat eine linksseitige Lähmung auf. Seitdem ist er schwer behindert und auf die Hilfe anderer angewiesen. »Dabei ist er ein so interessanter Mann – begabt und unternehmenslustig«, sagt Nina.
Nina lebt gern in Deutschland. »Das Leben ist hier sehr angenehm«, sagt sie. Wenn sie nicht mit ihrem Sohn oder dem Haushalt beschäftigt ist, lernt Nina Deutsch. Aber das ist ihr nicht genug. Sie vermisst ihre Arbeit und hat deshalb angefangen, Englisch-Nachhilfe zu geben. Früher ging sie dafür ins Gemeindezentrum, heute kommen die Schüler zu ihr nach Hause. »Ich bin glücklich, dass ich helfen kann.« Nina hat Freunde gefunden in Königs Wusterhausen, auch in der jüdischen Gemeinde. Dort ist sie Mitglied im Frauenclub. »Wir unternehmen viel«, schwärmt sie. Ausstellungen, Lesungen, Konzerte – bei allen Ereignissen ist die 73-Jährige dabei. Sie hilft auch, Gemeindefeiern zu organisieren, beispielsweise zu Channuka oder Pessach. »Unsere Gemeinde ist klein, aber aktiv« – so wie sie selbst, möchte man hinzufügen.
Nina hat eine 16-jährige Enkelin, auf die sie sehr stolz ist. »Kristina ist eine sehr fleißige Schülerin«, sagt sie und nickt anerkennend. Kristina besucht ein englisches Gymnasium und »spricht Englisch wie Deutsch«, sagt Nina. Nur mit der russischen Sprache hapert es, deshalb wollen ihr Nina und William die russische Literatur nahebringen. »Wir träumen davon, dass sie viele Sprachen lernt, ja vielleicht sogar Sprachen studiert«, verrät Nina. Kristina will in die Fußstapfen ihrer Großmutter treten und Lehrerin werden, doch Nina wehrt ab: »Ich habe ihr abgeraten.«
Seit dem Umzug nach Deutschland war Nina erst ein Mal wieder in ihrer Heimatstadt Kiew. Da immer einer der Eltern bei ihrem Sohn bleiben muss, können Nina und ihr Ehemann nicht gemeinsam reisen. »Es ist mein Traum, wieder nach Kiew zu fahren«, sagt sie schwärmerisch, denn sie hat dort viele Freunde. »Aber leben möchte ich dort nicht mehr.«

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