Liebe

Daheim in der Fremde

von Sabine Brandes

Schnee wird es auch dieses Jahr nicht geben. Doch für Christiane weihnachtet es sehr. Fast trotzig hat sie den Karton direkt in den Eingang gestellt. Genau dahin, wo ihn jeder, der das Haus betritt, gut sehen kann. Getarnt ist er nicht, das Bild auf der Vorderseite lässt keinen Zweifel, was im Innern steckt. Glückseligkeit in Form einer hölzernen Pyramide, auf der Hirten und Schäflein, die drei Könige und das Jesuskind samt Eltern, Ochs und Esel sacht ihre Runden drehen. Es wird Zeit, sie aus der Verpackung zu holen, lang ist es nicht mehr bis zum 24. »Die Pyramide wandert von einem zum anderen, dort, wo wir Weihnachten feiern, steht sie«, sagt Christiane und zieht einen sorgfältig verpackten Kerzenhalter nach dem anderen hervor.
Das Fest der Liebe, das fast alle im Kreise der Familie begehen, ist für sie das Fest der Freunde. Christiane lebt in Israel. Hier hängt die Deutsche die Adventskalender für ihre Kinder auf, backt Zimtsterne, Zuckerplätzchen und wickelt Geschenke ein. Sie feiert mit denen, die auch feiern. Mit deutschen Frauen, die hier mit ihren israelischen Ehemännern leben.
Christiane ist freie Künstlerin und schon lange hier. Mittlerweile länger, als sie je in Deutschland gelebt hat. Sie stammt aus dem Norden, einem kleinen Ort nahe der Küste. Damals, erinnert sie sich, wollte sie vor dem Studium noch ein bisschen von der Welt sehen, das Leben genießen. Gerade mal 20 Jahre alt, ging sie als Au-pair-Mädchen nach Israel. Und mit Dani, dem Bademeister, kam die Liebe. Christiane blieb. Noch immer muss sie schmunzeln, wenn sie daran denkt, wie alles anfing. »Es war nur als flüchtiges Abenteuer gedacht«, scherzt sie und lacht. Die Liebe hielt 20 Jahre, seit einer Weile ist alles aus, und Christiane noch immer in Israel. Manchmal bleibt ihr das Lachen im Halse stecken.
Seit etwa einem Jahr ist ihr Noch-Ehemann »Choser B’Tschuwa«. Das ist ein ehemals säkularer Jude, der die Religion wiederentdeckt hat und fromm wird. »Seitdem kann er unsere drei Kinder – seine Kinder – nicht mehr richtig anerkennen«, sagt sie und senkt ihren Blick für einen Moment. »Ich hätte nie gedacht, dass sich jemand dermaßen abrupt wandeln kann, nach allem, was man zusammen hatte, und glaubte immer, so etwas passiert nur anderen.« Dani sieht seine Tochter und die beiden Söhne kaum noch, mit Christiane wechselt er kein Wort mehr. Nach zwei Jahrzehnten Gemeinsamkeit. Der Gedanke tut ihr weh, die sonst so auffälligen Lachfältchen um ihre Nase verschwinden, wenn sie davon erzählt. Gerade wird verhandelt, wie es weitergehen soll mit dem Haus und den Unterhaltszahlungen. Über die Seelen, die dabei verwundet werden, spricht niemand.
Christianes Kinder sind keine halachischen Juden, die 42-Jährige ist nie konvertiert. Ganz zu Anfang der Beziehung habe Dani gesagt, er fände es schön, wenn sie zum Judentum überträte. »Ich wollte es ihm zuliebe tun und habe ihn gebeten, mir mit den Vorbereitungen zu helfen. Doch seine Unterstützung war gleich null, und darüber ist die ganze Sache eingeschlafen.« Bereut hat sie es all die Jahre nicht, »es wäre ohnehin nichts als eine große Lügerei gewesen.«
Dennoch legte die hübsche, schlanke Frau immer Wert auf die Traditionen ihres Mannes, bereitete freitags das Schabbatessen vor, tischte Zimmes und gehackte Leber auf, feierte alle Feste von Rosch Haschana bis Schawuot. »Natürlich habe ich mich bemüht, das Leben einer jüdischen Familie zu führen. Aber wir haben eben auch Eier gesucht und unterm Weihnachtsbaum gesessen, das ist schließlich meine Tradition.« Dani machte sie mit, ließ sich sogar die Würstchen ihrer Eltern schmecken. Die lebten damals von der Landwirtschaft und züchteten Schweine. Über das Foto ihres Mannes mit dem Ferkelchen auf dem Arm kann sie sich immer noch kaputtlachen.
Außer für Urlaube ist Christiane nie nach Deutschland zurückgekehrt. »Doch das heißt nicht, dass ich nicht daran gedacht habe. Besonders nach der Trennung. Es ist unheimlich schwer, an fremdem Ort plötzlich allein für eine ganze Familie verantwortlich zu sein. Oft fühle ich mich als Analphabetin, weil ich schlecht lese und schreibe. Einfach alles kann dann zum Hindernis werden.« Ist Israel nach mehr als zwei Jahrzehnten noch fremd für sie? »Ist es«, sagt sie knapp. Richtig angekommen ist Christiane wohl nie, obwohl sie viele Dinge an Land und Leuten schätze und sich in ihrem Zuhause sehr wohl fühlt. »Ich sitze einfach zwischen zwei Stühlen, auf keinem so richtig.« Den Gedanken, in die alte Heimat zurückzukehren, lässt sie zu, realisieren wird sie ihn kaum. »Da bin ich doch mittlerweile genauso fremd.«
Es gibt keine Zahlen, wie viele deutsche Nichtjüdinnen und -juden in Israel leben. Die deutsche Botschaft in Tel Aviv kann nicht einmal eine Schätzung abgeben. Da weder Meldepflicht noch Wählerverzeichnisse existieren, sei das völlig unmöglich, so ein Sprecher. »Es gibt sicher sehr viele Deutsche, die hier arbeiten, mit ihren Ehe- oder Lebenspartnern zusammenwohnen oder allein gekommen sind, von denen wir überhaupt nichts wissen.« Deshalb könne man keine Angaben dazu machen, das gelte nicht nur für Israel, sondern für das gesamte Ausland.
Aber es gibt eine ganze Menge, da ist sich Ute Pomer ziemlich sicher. »Man trifft sie hier ja überall.« Die Bankkauffrau aus Overath bei Köln ist eine von ihnen. Wie Christiane verliebte sie sich in jungen Jahren in einen attraktiven Israeli und gründete eine Familie. Mit den Kindern Luca (10) und Timo (8) ging es im Sommer ins neue Haus in Pardes Hanna bei Cesarea. Noch immer fehlen die Küchenfliesen, stehen Umzugskartons herum, der Rasenmäher parkt im Wohnzimmer. Es ist nicht ihr erster Umzug. »Wahrlich nicht«, sagt sie und zieht halb genervt, halb amüsiert die Schultern hoch. Sie wisse nicht mehr, wie oft sie ihren gesamten Hausstand schon in Kisten verpackt hat. »Es ist so, als schnürten wir unser ganzes Leben zusammen, laden es in den Container und sehen es dann für ein paar Monate nicht mehr.«
Ende der achtziger Jahre lebten Ute und Yoram in Ramat Gan bei Tel Aviv, genossen Jugend und Verliebtheit. Zum Informatikstudium ging es für ihn nach Köln, Ute arbeitete währenddessen in der Auslandsabteilung der Kölner Bank und sorgte für den Lebensunterhalt. Zehn Jahre und zwei Kinder später ließen sie sich in Hod Hascharon nieder, einer Kleinstadt nicht weit von Netanja. »Ein guter Start«, erinnert sich die 41-Jährige mit den blitzenden Augen. Der Nachwuchs war im Kindergarten, Yoram hatte einen guten Job, sie selbst arbeitete bei der Botschaft. Der Enthusiasmus über die neue, alte Heimat währte nicht lange. Die Zweite Intifada brach aus und damit die Hölle für die junge Mutter. Jeden Tag sprengte sich ein anderer palästinensischer Attentäter in die Luft, mal im Bus, mal im Einkaufszentrum, mal in einem Café. »Plötzlich war die Bedrohung allgegenwärtig, es hörte einfach nicht auf. Tod, Blut und Zerstörung überall, jeden Tag, jede Minute. Ich wurde immer panischer. Hinter einem Bus herzufahren, versetzte mich in Angst, einkaufen wurde zu einem Lauf gegen die Zeit, irgendwohin ausgehen ein Tabu. Als der Kindergartenzaun verstärkt und vor dem Tor ein Sicherheitsmann mit Maschinengewehr aufgestellt wurde, fragte ich mich im Büro nur noch: ›Werde ich meine Kinder heute lebend wiedersehen?‹ Es ging einfach nicht mehr.« Fast gleichzeitig brach die IT-Branche zusammen, Yoram verlor seinen Job. Die Familie packte und zog nach Elberfeld. Nicht alle konnten diesen Schritt nachvollziehen. Utes Schwiegermutter, zu der sie ein Verhältnis wie zu ihrer eigenen Mutter hat, sprach fast ein Jahr lang nicht mit ihr. Dennoch fühlten sie sich in dem Dorf im Ländle wohl, vor allem die Kinder. »Sie gingen nach der Schule zum Spielen raus und kamen erst abends rein. Endlich konnten wir wieder durchatmen.« Für Yoram jedoch war es alles andere als ein Paradies. Trotz Job und anschließendem Aufbaustudium kam er nicht gut mit dem neuen Leben zurecht. Freunde habe er wenige gehabt. Die Mentalitätsunterschiede waren so groß, dass die Familie nach Israel zurückkehrte.
Auch Ute ist nie übergetreten. »Alles andere wäre Betrug gewesen.« Dass Luca, Timo und sie selbst keine Juden im Judenstaat sind, sei jedoch oft schwierig. Sie kann sich des Gefühls nicht erwehren, an eine soziale Grenze zu stoßen. »Auch ohne klare Worte spüre ich in der Gesellschaft ein ›Bis hierher und nicht weiter‹. Wirklichen Zugang zum Club haben wir nicht.« Besonders schlimm sei es an Jom Ha’Schoa, ein Tag, an dem die Kinder ihr Anderssein deutlich zu spüren bekommen. »Mein achtjähriger Sohn musste sich in der Schule schon anhören, er persönlich sei für den Holocaust verantwortlich.« Das sind Momente, in denen sie sich schuldig fühlt. Auch dafür, dass Luca und Timo oft traurig sind, ihre Freunde und Familie in Deutschland vermissen und sie allesamt Probleme mit der hebräischen Sprache haben.
Gemeinsames Schicksal verbindet. Auch Christiane und Ute. Sie lernten sich 1988 im Hebräischkurs kennen und sind seitdem dicke Freundinnen. Beide betonen, wie stark ihr Schicksal sie macht und wie viel Abwechslung es bringt, trotz aller Schwierigkeiten und Zweifel. »Eins ist klar, langweilig wird uns nicht.« Als Christiane das sagt, sind sie wieder da, die lustigen Fältchen um ihre Nase. Am Abend des 24. Dezember werden sich alle Freundinnen bei ihr treffen. Sie bringen die Kinder mit, die meisten ihre Männer. Als Weihnachtsbaum muss eine Konifere herhalten, Tannen sind nirgends zu kriegen. Eine der Frauen hat einen Plastikbaum, den sie jedes Jahr hervorkramt und der »total echt« aussieht. Behängt wird er mit Kugeln aus der Heimat. Christiane ist ein alter Hase in Sachen Weihnachten in der Fremde. »Mein Haus ist schon im Advent geschmückt.« Sie stellt eine Dose selbst gebackene Kekse auf den Tisch. Der Holzofen bollert. Vor der Tür liegt Sand statt Schnee, und an der nächsten Haltestelle stehen orthodoxe Männer neben Soldaten in Uniform und warten auf ihren Bus.

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