Uneinigkeit

Bruderzwist

von Rabbiner Jaron Engelmayer

Während der vergangenen 2.000 Jahre lebte das jüdische Volk fast durchweg im Exil und wanderte von Ort zu Ort, ohne eine feste Heimat zu haben. Dieser Umstand ist für das Volk Israel nicht neu, wurde es doch quasi im Exil geboren. In unserem Wochenabschnitt finden wir die Vorgeschichte zum ersten Exil des jüdischen Volkes: die Geschichte von Josef und seinen Brüdern. In der Folge dieser Geschichte wird die Familie unseres Vorvaters Jakow mit ihren 70 Mitgliedern vom Lande Kanaan nach Ägypten ziehen und sich dort vermehren und zu einem großen und zahlreichen Volk werden. Doch warum kann sich das jüdische Volk nicht wie jedes andere ganz gewöhnlich in einem eigenen Land entwickeln? Warum muss die Geschichte des jüdischen Volkes schon in der Fremde beginnen?
Das Exil hat eine Ursache, eine menschliche Ursache: Uneinigkeit! Der Streit und der Hass zwischen den Söhnen Jakows – zwischen Josef und seinen Brüdern – haben zum Verkauf Josefs nach Ägypten und schließlich zum Exil der gesamten Familie in Ägypten geführt. Doch auch der Hass zwischen den Brüdern hat eine Ursache: Üble Nachrede! Josef hinterbringt seinem Vater Jakow die bösen Reden seiner Brüder, wie zu Beginn des Wochenabschnitts beschrieben. Aber auch Josefs Brüder reden hinter seinem Rücken schlecht über ihn. Als er von Jakow zu ihnen geschickt wird, um nach ihrem Wohlergehen zu fragen, und sie ihn von Weitem erblicken, sprechen sie zueinander: »Seht, da kommt der Träumer.« Und sie beginnen zu beratschlagen, was sie ihm Übles antun können. Auch als Josef Jahre später als Herrscher Ägyptens seine Brüder schickt, um Jakow nach Ägypten zu holen, sagt er ihnen, sie sollen sich unterwegs nicht aufhalten. Der Kommentator Raschi erklärt, dass sie nicht darüber diskutieren sollen, wer damals den Hass auf Josef und somit seinen Verkauf verursacht habe, indem er hinter seinem Rücken schlecht über ihn gesprochen habe (Raschi Bereschit, 45,24).
So ist es nicht verwunderlich, dass auch 1.500 Jahre später wieder die Uneinigkeit und der unnötige Hass im jüdischen Volk – verursacht vorwiegend durch üble Nachrede – dazu führten, dass wir für weitere 2.000 Jahre ins Exil mussten (Babylonischer Talmud, Joma 9b).
Dies lehrt uns auch die Geschichte von Kamza und Bar Kamza. Sie erzählt von einem Festmahl, zu dem aus Unachtsamkeit Bar Kamza statt Kamza eingeladen wurde. Da aber Bar Kamza des Hausherren Feind war, ließ dieser ihn rauswerfen. Keiner der Anwesenden unternahm etwas dagegen, worauf Bar Kamza aus Wut zum römischen Kaiser ging und die Juden denunzierte, indem er sie der Rebellion bezichtigte. Dies führte zur Zerstörung des Zweiten Tempels und zum Exil (Babylonischer Talmud, Gitin 55b). Nur gegenseitige Akzeptanz und die Einigkeit im jüdischen Volk werden dieses Exil endgültig beenden!
Doch menschliche Ursache hätte wohl wenig Wirkung, würde Gott nicht seine lenkende Hand im Spiel haben. »Viele Gedanken sind im Herzen des Menschen, aber der Ratschluss des Ewigen, der hat Bestand.« (Sprüche 19,21). Dies begegnet uns auch in diesem Wochenabschnitt. Jakow schickt Josef zu den Vieh hütenden Brüdern nach Schechem, um zu fragen, wie es ihnen geht. Doch in Schechem sind seine Brüder nicht. Statt ihrer trifft Josef »einen Mann«, der ihm erzählt, die Brüder seien nach Dotan gegangen. Dort, in Dotan, findet Josef sie tatsächlich. Hätte es nicht gereicht, zu erzählen, wie Josef von Jakow zu seinen Brüdern geschickt wird und sie in Dotan trifft? Wozu erzählt uns die Tora, dass Josef in Schechem einem Mann begegnet, der ihn nach Dotan weiterverweist? Sind doch die Worte der Tora aufgrund ihres göttlichen Ursprungs genauestens gezählt und gewogen.
Unsere Weisen sehen in diesem »Mann« in Schechem einen Engel (Raschi Bereschit, 37,15). Er ist kein Engel mit Flügeln, und er ist auch nicht von schimmerndem Licht umgeben; das wäre Josef aufgefallen. Nichtsdestotrotz ist dieser »Mann« ein Bote Gottes, denn er befindet sich nicht zufällig in Schechem. Nein, von Zufall kann hier keine Rede sein. Dieser »Mann« hat eine Schlüsselfunktion für den Ablauf der weiteren Geschichte. Würde er Josef nicht erzählen, dass seine Brüder in Dotan sind, ginge der wohl unverrichteter Dinge zu seinem Vater zurück. Und alles würde sich fürs Erste weiter so verhalten wie bisher. Den weiteren Verlauf der Geschichte der von Gott auserwählten Familie und ihrer Volkswerdung könnte man da höchstens vermuten. Doch es kommt anders: Josef findet seine Brüder in Dotan, dort verkaufen sie ihn nach Ägypten, was schließlich dazu führt, dass Jakows ganze Familie an den Nil zieht. Dort wird sich später das jüdische Volk entwickeln – in der Fremde und als Sklaven. Das alles verursacht dieser eine Mann, dieser Engel, dieser Bote Gottes, in Schechem mit seinem kleinen Hinweis.
Die Entscheidungen der Menschen mögen menschlich sein, die Schicksalsfügung aber, die geschichtliche Zusammenhänge und historisch bedeutende Resultate schafft, ist göttlich. Dies enthebt den Menschen jedoch nicht seiner Verantwortung für die von ihm verursachten göttlichen Folgen.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Aachen.

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