Turkmenistan

Beten verboten

von Matt Siegel

Es war wie ein Wunder. Im vergangenen Jahr erhielt erstmals ein Mitglied der jüdischen Gemeinde in Aschchabad einen eigenen Internetanschluss. Angesichts der Tatsache, dass nur sieben Prozent der fünf Millionen Einwohner Turkmenistans Zugang zum Internet haben, freuten sich die Frau und ihre Tochter über die Maßen. Dann bekamen sie Besuch vom staatlichen Geheimdienst – den die Menschen hier immer noch KGB nennen. »Die Männer gaben ihr eine Liste verbotener Websites«, erzählt die Mutter, die lieber anonym bleiben will.
Der Geheimdienst werde ihre Internetnutzung überwachen, wurde ihr gesagt. Jeder Versuch, auf illegalen Websites zu surfen, werde für sie und ihre Tochter Konsequenzen haben. In Turkmenistan, wo sich Ausländer nach 23 Uhr nicht mehr auf der Straße aufhalten dürfen und alle öffentlichen Plätze mit Kameras überwacht werden, kam der Besuch für die beiden nicht überraschend.
Die Frau und ihre Tochter gehören der kleinen jüdischen Gemeinde Turkmenistans an, die nicht mehr als 1.200 Mitglieder zählt. Unter einem Regime, das allen Nichtturkmenen den Status von Bürgern zweiter Klasse zuweist, ist ihre Geschichte nichts Außergewöhnliches. Im November 2003 unterzeichnete der inzwischen verstorbene turkmenische Diktator Saparmurat Nijasow ein Gesetz, dass allen nichteingetragenen religiösen Gruppen im Land verbietet, ihre Religion auszuüben. Da zuvor ausschließlich russisch-orthodoxen und sunnitisch-muslimischen Gruppierungen gestattet worden war, sich einzutragen, trat mit dem Gesetz ein De-facto-Verbot des Judentums in Kraft. Damit wurde Turkmenistan zum einzigen Land der ehemaligen Sowjetunion, in dem es staatlichen Antisemitismus gibt.
Nijasow, der Ende vergangenen Jahres einen Herzinfarkt erlitt und unerwartet starb, hatte die zentralasiatische Republik 21 Jahre lang mit eiserner Faust regiert. Auf den ultramodernen und beinahe leeren Straßen im Zentrum von Aschchabad sind goldene Statuen von Nijasow und Plakate mit seinem Bild allgegenwärtig. Selbst die baufälligen Wohnblöcke aus der Sowjetzeit rings um die Stadt sind Zeugen seines byzantinischen Personenkults.
Gurbanguly Berdimuhammedow, der im Februar zum neuen Präsidenten des Landes gewählt wurde, versprach zwar einige Veränderungen, stellte aber klar, dass er nicht plane, das Land von der Omnipräsenz seines Vorgängers zu befreien. Die Herrschaft Nijasows hat eine Gesellschaft hervorgebracht, in der nur die ethnischen Turkmenen auf einigen Wohlstand hoffen können. Obwohl das Land über die zweitgrößten Erdgasreserven in der ehemaligen Sowjetunion verfügt, haben die weit verbreitete Korruption und gewaltige staatliche Bauvorhaben zu Ehren Nijasows wenig Geld für andere Zwecke übrig gelassen.
Die Juden in Turkmenistan sind in der Mehrzahl Nachfahren sowjetischer Juden aus Russland und der Ukraine. Sie kamen 1948 hierher, um die Hauptstadt wieder aufzubauen. Aschchabad war zerstört worden durch ein Erdbeben, dem 80 Prozent der Bevölkerung zum Opfer fielen.
Da das Judentum in Turkmenistan quasi verboten ist, gibt es für die Juden des zentralasiatischen Landes nur eine Option: abzuwarten, bis sie das Geld und die nötigen Papiere beieinander haben, um nach Israel auszuwandern. Doch das dauert manchmal mehrere Jahre.
In der Zwischenzeit sind die turkmenischen Juden ganz wider Erwarten zu einer eng verbundenen Familie geworden. Es gibt in Turkmenistan keine legalen eingetragenen jüdischen Organisationen, doch eine kleine Gruppe engagierterEinzelpersonen trotzte den Gefahren und tat sich zusammen, um ihren eigenen Leuten zu helfen. Sie versammeln sich größtenteils im Geheimen, ohne Rabbiner und ohne Bethaus. Die einzige Synagoge des Landes hatte Nijasow abreißen lassen, um an ihrem Ort einen Brunnen mit der Statue eines alten turkmenischen Helden zu bauen. Während die Juden in Turkmenistan betonen, dass traditionelle Formen des Antisemitismus in ihrem Land nicht existieren, sind die gnadenlosen Folgen der faktischen wirtschaftlichen Apartheid überall spürbar.
Verlässt man das Zentrum Aschchabads, sieht man in den Straßen junge Männer und Frauen, die Geld auf dem Schwarzmarkt wechseln oder einfach nur herumlungern. Laut einer Schätzung aus dem Jahr 2004 liegt die Arbeitslosenquote Turkmenistans bei 60 Prozent. Die wirtschaftliche Ungerechtigkeit, gepaart mit einem repressiven Sicherheitsapparat, verfehlt ihre entmutigende Wirkung auf die jüdische Gemeinde nicht. Nach ihrer Meinung über das Regime gefragt, sind viele zu ängstlich, ihre Gedanken zu äußern – vor allem am Telefon, das, wie viele glauben, abgehört wird.
Die meisten turkmenischen Juden halten die Auswanderung nach Israel für den einzigen Ausweg. Bei der Volkszählung 1989 wurden in Turkmenistan 2.500 Juden registriert, etwa die Hälfte von ihnen hat seither das Land verlassen. »So lange wir still sind, wird es ewig so weitergehen«, sagt eine 22-Jährige mit flammend rotem Haar. Aber wenn man den Mund aufmache, werde ihn jemand schließen, gibt ein Gemeindevertreter zu bedenken. »Das Problem ist, dass die Hälfte der Welt nicht einmal weiß, dass wir existieren«, erwidert die junge Frau.
Vielleicht beantwortet dies die Frage, wieso das ärmste Land der ehemaligen Sowjetunion – ein Land, in dem Juden wohl unter repressiveren Bedingungen leben als irgendwo sonst in der Region – so gut wie keine Spenden erhält. Für die älteren Juden Turkmenistans ist die Situation am schlimmsten. Weil der Staat Renten nur an ehemalige Staatsbedienstete zahlt, sind sie gezwungen, von unregelmäßigen Almosen und der medizinischen Hilfe zu leben, die Freunde und besorgte Juden aus dem Ausland senden. Die vergessenen Juden Turkmenistans empfinden ihre Isolation von der jüdischen Weltgemeinde wie einen Schlag ins Gesicht. »Sagen Sie ihnen einfach, dass wir existieren!«, so endet fast jedes Gespräch mit einem turkmenischen Juden. »Sagen Sie ihnen, dass wir hier sind.«

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