Rottweil

Aus Überzeugung

von Thomas Lachenmaier

Von der Bücherwand grüßt Paul Spiegel: Wie zum Gedenken an den Ende April verstorbenen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland steht sein Buch »Gespräch über Deutschland« mit seinem Porträt auf dem Titel sichtbar im Regal. Und so ist es wohl auch gemeint von Werner Kessl. Der pensionierte Lehrer gehört zu jenen nichtjüdischen Bürgern Rottweils, die sich für die neue jüdische Gemeinde in der Stadt engagieren.
An seinem Wohnzimmertisch haben auch Wolfgang Braun und Edgar Bergner Platz genommen, zwei seiner Mitstreiter. Auch sie sind Ruheständler. Doch der Begriff suggeriert zu Unrecht Beschaulichkeit – bürgerschaftliches Engagement ist ihre neue Profession. Werner Kessl war Gymnasiallehrer. Als die ersten Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion vor neun Jahren in die Stadt kamen, veranlaßte ihn das als Historiker, einen kritischen Blick auf die Geschichte seiner Stadt zu werfen. Sein Blick fiel auf die 1938 ausgelöschte jüdische Gemeinde.
Heute gibt es wohl kaum jemanden, der mehr über die Geschichte der Rottweiler Juden und auch über den Neubeginn der jüdischen Gemeinde in Rottweil weiß, als Werner Kessl. Längst ist ihm die jüdische
Vergangenheit, und mehr noch die Gegenwart, eine Herzensangelegenheit geworden. Er engagiert sich im »Arbeitskreis Ehemalige Synagoge Rottweil«, führt Besuchergruppen und Konfirmanden über den alten jüdischen Friedhof und ist für Tatjana Malafy, die rührige Geschäftsführerin der Israelitischen Kultusgemeinde Rottweil – Villingen/Schwenningen, ein wichtiger Ratgeber.
Tatjana Malafy erinnert sich gerne an ihre ersten Begegnungen mit Werner Kessl. »Er hat sich immer sehr interessiert und viel geholfen«, erzählt sie. Seit mehr als acht Jahren unterstütze er die Gemeinde, »er hat sogar ein Konzert für uns organisiert«, berichtet sie. Ihr Sohn Viktor stand dabei gemeinsam mit Kantor Moshe Hayoun auf der Bühne.
Eine persönliche Beziehung zu Juden und zum Judentum entwickelte auch Kessls Kollege Wolfgang Braun, der an einer Realschule Geschichte und Deutsch unterrichtete. Braun arbeitete als 25jähriger in einem israelischen Kibbuz. Er erinnert sich gern an dieses Jahr in Israel. Zum Abschied hatte ihm sein Arbeitskollege Josef, mit dem er monatelang Wasserleitungen verlegt hatte, auf Deutsch eine persönliche Widmung in einen Bildband über Israel geschrieben. In der Sprache, die Josef eigentlich nie wieder benutzen wollte. Daß sein Kollege dieses Versprechen für ihn brach, habe ihn ungeheuerlich bewegt, erzählt Wolfgang Braun. Heute lehrt er jüdische Einwanderer die deutsche Sprache.
Der dritte Helfer, Edgar Bergner, arbeitete früher als Sozialarbeiter und nebenberuflich als Religionslehrer in Speyer. Mit dem Judentum kam er durch die historische Mikwe in Speyer in Kontakt und las darüber. Bald führte er Besuchergruppen durch das historische Ritualbad. »Den Juden ist in den 900 Jahren in Speyer immer wieder Unrecht angetan worden: Vertreibung, Verfolgung, Neubeginn«, sagt er. Für Bergner war klar: »Ich möchte da etwas machen«, auch als eine persönliche Antwort auf die Geschehnisse im Nationalsozialismus.
Wie Kessl und Braun begrüßt er die neue jüdische Gemeinde als Bereicherung des Stadtlebens von Rottweil. Auch er erteilt den Einwanderern Deutsch-Unterricht. Bergner hat viel Zeit damit zugebracht, Praktika für Gemeindemitglieder zu finden, Bewerbungsschreiben für sie zu verfassen, Dokumente übersetzen zu lassen und ihnen Türen zu öffnen.
Die drei Lehrer sind sich darin einig, daß nur mit der Aufarbeitung der deutschen Geschichte auch das Verhältnis zu den heute in Deutschland lebenden Juden verbessert werden kann. Deshalb spiele das Erinnern, die Pflege des verbliebenen Erbes und das Gedenken für sie eine große Rolle.
Sie lassen es nicht mit dem Sprachunterricht bewenden. Werner Kessl wirkte federführend an einer kleinen Dokumentation über die jüdische Gemeinde mit und beteiligte sich an einer Publikation, in der Schicksale jüdischer Schülerinnen im Nationalsozialismus geschildert werden. Aber auch über das neue jüdische Leben in Rottweil findet sich darin ein Beitrag: Ein Porträt stellt die 22jährige Tanja Malafy vor. Die Tochter der Geschäftsführerin steht für ein neues jüdisches Selbstbewußtsein und ein Bekenntnis zu den jüdischen Traditionen. Denn Information schaffe Verständnis und Respekt für die jüdische Gemeinde und schlage eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart, sagt Kessl.
Für die Zuwanderer ist die Unterstützung der drei mehr als praktische Lebenshilfe. Es hilft der Gemeinde bei der Identitätsfindung, und diese Arbeit strahlt auch in das politische und gesellschaftliche Umfeld aus. Die Ehrenamtlichen sind ein Bindeglied zwischen der Gemeinde und einer breiteren Öffentlichkeit. Dafür ist Gemeindevorsitzende Tatjana Malafy sehr dankbar.
Man spürt im Gespräch, daß die drei Männer ihre sinnvolle Arbeit befriedigt. Das stürmische Wachstum der Gemeinde und wie die Zuwanderer um eine neue Identität für sich und ihre Gemeinschaft ringen, erleben sie sehr intensiv und aus nächster Nähe mit. Die eigene Rolle beurteilen sie dabei zurückhaltend. Sie möchten unterstützen, aber als Katholiken keine religiösen Anschauungen thematisieren oder gar missionieren. »Als Christ sehe ich mich als den jüngeren Bruder, der von dem Bestehenden eine ganze Menge lernen kann«, sagt Edgar Bergner. Seine Kollegen formulieren dies in ganz ähnlichen Worten. »Wir wollen den Menschen dabei helfen, ihren eigenen Weg zu finden«, erklärt Wolfgang Braun. Eine Bevormundung oder gar Vereinnahmung fürchtet Tatjana Malafy von ihren drei Helfern nicht. »Das ist alles sehr korrekt, und diese Hilfe ist für uns sehr, sehr wichtig«.

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