Anmerkungen

Auftrag: Schnellschuss

von Sergey Lagodinsky

Zu meiner gelungenen Integration als »Russe« in Deutschland gehört der Umstand, dass ich weiß, wer Maxim Biller ist. Und welch ein Glück, dass ich »integriert« bin. Denn hätte ich über den Schriftsteller nichts gewusst, wäre mein empörter Brief an den Chefredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schon unterwegs. Vor einigen Wochen platzierte das Wochenblatt eine Kurzgeschichte über einen reichen Juden, der nur unter sichtlichen Schmerzen und weil es nicht mehr zu vermeiden war, eine viertel Million Euro für Darfur spendet, gleichzeitig von seiner Frau Sima für ein neues Kleid und eine wiederholte Brustvergrößerung ausgenommen wird und anschließend irritiert feststellt: »Nächstes Mal geb’ ich lieber wieder nach Israel Geld, da sind dann zumindest die eigenen Leute undankbar.« Der Text protzte geradezu mit klassischen antisemitischen Anspielungen und verdiente eine ordentliche Protestkampagne durch Honestly Concerned, eine Medienbeobachtungsstelle gegen Antisemitismus, wäre der Autor dieses Textes, Maxim Biller, nicht selber Jude.
Wenn der Frankfurter Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik in der Berliner tageszeitung fragt, ob es denn Antisemitismus unter Juden gebe und dabei feststellt, dass dies »eine empirische, keine grundsätzliche Frage« sei, will man ihm (ausnahmsweise) widersprechen. Die Frage kann nicht damit abgetan werden, dass, so wie es »frauenfeindliche Frauen oder schwulen- feindliche Homosexuelle«, es auch jüdische Antisemiten gebe. Wer den Begriff des Antisemitismus, seine komplexe Geschichte und seine besondere Natur ernst nimmt, sollte sich hüten, Juden als

Antisemiten zu bezeichnen. Dies bedeutet nicht, dass sie keine antisemitischen Äußerungen von sich geben können. Empirisch kann man solche sehr wohl nachweisen. Doch kann man auch sagen, dass Juden damit selbst zu Antisemiten werden? Will man den giftigen Sarkasmus Henryk Broders oder die bittere Satire Maxim Billers weiterhin unbeschwert lesen und unter Umständen gar genießen können, so müsste man anerkennen, dass die Frage des »jüdischen Antisemitismus« keine em- pirische, sondern eine strukturelle ist: Juden können antisemitische Klischees aussprechen oder gar erfinden. Antisemiten sind aber meist die anderen, die diese Klischees gegen sie wenden.
Zwei Gründe sprechen für die strukturelle Unmöglichkeit des jüdischen Antisemitismus. Der erste Grund ist soziologisch, der zweite ist psychologisch. Das Gruppensoziologische erklärt die Schärfe der jüdischen Selbstkritik, das Psychologische die Bitterkeit des jüdischen Selbsthasses.
Aus gruppensoziologischen Gesichtspunkten muss man erkennen, dass in einer Gemeinschaft, die durch gemeinsame Erlebnisse oder eine gemeinsame Identität zusammengehalten wird, durchaus eine andere Sprache Verwendung findet, als die, die man von Außenstehenden erwartet. In einer Gemeinschaft toleriert man gegenseitige Umgangsformen, die die kollektive Selbstkritik bis an die Grenzen des Erträglichen treiben. Die gemeinsame Zugehörigkeit wirkt enthemmend, sie fordert zur schonungslosen Reflexion auf, die oft an Selbstmarterung und Selbstzerfleischung grenzt. Nicht umsonst stammen die meisten Witze über Juden von Juden selbst, wurzeln sie doch in ihrer scharfen, häufig verzweifelten Selbstironie. Erst wenn eine jüdische Anekdote den Bereich des Gemeinschaftlichen verlässt und von Nichtjuden angeeignet wird, hört sie auf, ein jüdischer Witz zu sein und wird zu einem Judenwitz. Der Witz verkehrt sich in seiner Funktion von einem gemeinschaftskritischen Blick in eine gemeinschaftsfeindliche Waffe. Es ist also falsch, sich in bemühter Objektivität zu üben und die Äußerungen von Juden an den Maßstäben zu messen, mit denen man Äußerungen von Nichtjuden bemisst. Die Perspektive eines Juden ist eine erkennbar andere, auch wenn der Inhalt seiner Äußerungen antisemitisch klingen mag.
Der zweite Grund, warum es falsch ist, von jüdischen Antisemiten zu sprechen, ist ein psychologischer. Es gibt nämlich klare Unterschiede in der psychologischen Funktionsweise zwischen dem nichtjüdischen Antisemitismus und dem jüdischen Selbsthass. Letzterer ist alles andere als ein neues Phänomen. Schon Walther Rathenau, der spätere Außenminister der Weimarer Republik, hat ihn 1897 in seinem Artikel »Höre Israel« auf plakative Art und Weise praktiziert, als er Juden zur Anpassung an das »Germanentum« aufforderte.
Rathenau war nicht der erste Jude, der mit seinem Jüdischsein ein Problem hatte. Er blieb auch nicht der Letzte. Theodor Lessing hat die Geschichte einiger in seinem 1930 veröffentlichten Band Der jüdische Selbsthass zusammengestellt. Es gibt einige Forscher, die vermuten, diesem Selbsthass liege

der Wunsch zugrunde, sich aus der Opferrolle und dem Ziel antijüdischer Aggressionen zu befreien. Andere sprechen vom Drang, die eigene gruppeninterne Marginalisierung zu verarbeiten.
Ob bewusst oder unbewusst, die Zugehörigkeit dieser Menschen zum Kollektiv der Juden ist stets der Ausgangspunkt ihres komplexen Verhältnisses zum eigenen Jude sein. Dies unterscheidet den jüdischen Selbsthass, der durchaus antisemitische Züge annehmen kann, vom klassischen Antisemitismus.
Juden können also antisemitische Klischees reproduzieren oder bedienen, jedoch keine Antisemiten sein. Dies hat weitreichende Konsequenzen. Denn damit verschiebt sich die Diskussion, weg von den problematisch

redenden Juden hin zur problematisch denkenden nichtjüdischen Mehrheit. Allzu häufig instrumentalisiert die Mehrheitsgesellschaft die umstrittenen Äußerungen von Juden für ihre eigenen Zwecke.
Vor diesem Hintergrund ist die heftig diskutierte, vom American Jewish Committee veröffentlichte Kritik von Alvin Rosenfeld, Professor für Jüdische Studien in den USA, an den sogenannten progressiven Juden richtig und falsch zugleich. Richtig ist Rosenfelds Analyse, die ein Phänomen ausmacht, das sich kaum leugnen lässt: Es gibt eine Reihe jüdischer Stimmen, die scharf israelkritische, antizionistische, ja antisemitische Inhalte (re)produzieren. Falsch ist es aber, diese Menschen als das eigentliche Problem auszumachen, statt den instrumentellen Umgang mit ihren Äußerungen durch die Mehrheitsgesellschaft zu thematisieren. Diese Instrumentalisierung in Zeiten der »Tabuisierung« erfüllt eine Funktion: Eine öffentliche Debatte wird zu einer Polemik in Stellvertretung.
Es ist schwer zu übersehen, dass die öffentlich geltenden Grenzen des guten Geschmacks manch einem Bürger als zu eng erscheinen. Bestimmte Äußerungen sind im deutschen Nachkriegsdiskurs mehr oder weniger marginalen Gestalten wie Rupert Neudeck und Ministern a.D. wie Norbert Blüm oder Andreas von Bülow vorbehalten. Doch sogar aktive Politikerinnen und Mainstream-Prominenz à la Bischof Mixa, der vor kurzem von einer »ghettoartigen Situation« in den besetzten Palästinensergebieten sprach, die »fast schon Rassismus« bedeute, lassen sich gerne zu grenzwertigen Positionen hinreißen. Auch wenn solche Äußerungen für die Karriere oft folgenlos bleiben, bereiten sie doch beim formulieren Mühe, weil man sich auf dem dünnen Grenzstreifen zwischen Israelkritik und Antisemitismus orientieren und mit öffentlichen Gegenreaktionen auseinandersetzen muss, die nicht immer angenehm, aber immer zeitraubend sind.
Um Unannehmlichkeiten zu reduzieren, bedient man sich daher schon bei der Äußerung problematischer Positionen jüdischer Stimmen. Mit solcher Polemik in Stellvertretung schleust man Inhalte in die öffentliche Diskussion hinein, die man selbst nicht zu äußern wagte. Mehr noch, durch deren jüdische Urheberschaft werden solche Äußerungen zusätzlich legitimiert und enttabuisiert. So dient die Herkunft der jüdischen Stimmen von Alfred Grosser über Uri Avneri bis Noam Chomsky der Mehrheitsgesellschaft unausgesprochen als Versicherungspolice gegen Vorwürfe der Unausgewogenheit oder gar des Antisemitismus.
Um eines klarzustellen: Wie alle anderen müssen auch jüdische Israelkritiker in den Medien zu Wort kommen. Für dieses ihr Recht trete ich ent- schlossen ein. Doch ist ihre vermehrte mediale Präsenz immer dann suspekt, wenn die jüdische Herkunft zu deren einziger me- dialer Existenzberechtigung wird. Nicht alles, was sie sagen, ist antisemitisch. Doch machen wir uns keine Illusionen: Vieles davon klänge, wenn von einem Nichtjuden ausgesprochen, weder originell noch tolerabel. Man fragt sich daher, was sich respektable Medien aus solchen Auftritten versprechen – so zuletzt die Frankfurter Rundschau und die »Internationale Politik«, die den Publizisten Alfred Grosser mit seiner eher langweiligen und wenig reflektierten Israelpolemik prominent platzierten.
Nein, Juden können keine Antisemiten sein. Sie können sich aber, wie alle anderen, unreflektiert bis antisemitisch äußern. Es gehört zu den Aufgaben einer aufgeklärten Öffentlichkeit, auch in kritischen Äußerungen von Juden sinnvolle Gedanken von substanzloser Polemik zu unterscheiden, statt »Tabubrüche im Auftrag« zu inszenieren. Gelingt uns als Gesellschaft eine solche Differenzierung nicht, so drohen die »jüdischen Stimmen« zu einer bequemen Geräuschkulisse für die Ressentiments der Mehrheit zu verkommen.

Sergey Lagodinsky ist Publizist und Rechtswissenschaftler in Berlin. Foto: imago

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