Bericht

Deutschland und die »Diskriminierungskrise«

Die Beauftragten Dr. Mehmet Daimagüler, Sven Lehmann, Reem Alabali-Radovan, Ferda Ataman, Jürgen Dusel und Dr. Felix Klein (v.l.) stellten den Bericht vor Foto: picture alliance / Metodi Popow

Es sind ungewöhnlich deutliche Worte, die Ferda Ataman an diesem Dienstag Mitte September findet. Wer ihr zuhört, spürt: Mitte September ist viel zu spät. Denn die Gesetzesreform, die sie und sechs weitere Bundesbeauftragte in bemerkenswerter Einhelligkeit fordern, ist nicht erst seit gestern dringlich.

Vielmehr werbe sie seit Monaten im Bundesjustizministerium für eine Änderung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), sagt die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes. Vergeblich. Das Gesetz ist noch auf dem alten Stand. Und dass sich dies aus Sicht der sieben Beauftragten dringend ändern müsste, ist auch die Kernbotschaft aus dem Vierjahres-Bericht zur Diskriminierung in Deutschland, den Ataman und ihre Mitstreiter in Berlin vorstellten. 

Eines ist klar und auch schon seit längerem bekannt: Die Zahl der Hilfesuchenden steigt. »Immer mehr Menschen berichten uns von Diskriminierung«, sagt Ataman. Zwischen 2021 und 2023 registrierte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) insgesamt 20.618 Beratungsanfragen.

Nur bei etwa der Hälfte habe sie den Betroffenen konkret weiterhelfen können, sagt Ataman. Das liege vor allem an der Art, wie das aktuelle AGG konzipiert sei: Es sei »schwach und lückenhaft« und lasse wichtige Bereiche außen vor - etwa Fälle von Diskriminierung, die von staatlichen Stellen wie der Polizei, der Justiz oder anderen Behörden ausgehe. Das jetzige AGG umfasse lediglich den Schutz vor Diskriminierung in privaten Rechtsbeziehungen - etwa bei einem Restaurantbesuch.

Ataman sieht Deutschland in einer »Diskriminierungskrise«

Ataman beklagt, dass nach der aktuellen Rechtslage Fälle von »handfester Diskriminierung« im AGG keine Rolle spielten. Die Bundesregierung - allen voran das Bundesjustizministerium - verschleppe die nötige Reform, die sie den Bürgerinnen und Bürgern in ihrem Koalitionsvertrag versprochen habe.

»Ich hätte Ihnen gerne eine gute Nachricht überbracht.« Aber leider gebe es noch nicht einmal einen ersten Entwurf. »Man kann sich offenbar nicht darauf einigen, Menschen in Deutschland ordentlich vor Diskriminierung zu schützen.« Das Thema werde einfach »links liegen« gelassen. 

Was auch angesichts der jüngsten Wahlergebnisse für die AfD in Sachsen und Thüringen ein fatales Signal sei. Gewonnen habe dort eine »Partei, die Eingewanderte und ihre Nachkommen vertreiben will, die aber auch queere Menschen ablehnt, Menschen mit Behinderungen verächtlich macht und Frauen zurück an den Herd wünscht«, konstatiert Ataman. Das Land stecke in einer »Diskriminierungskrise«. Viele Menschen fragten sich gerade: »Bin ich hier noch sicher?«

Migration werde pauschal als Problem dargestellt

Auch die anderen Beauftragten äußern Sorgen. Nach den Wahlen in Sachsen und Thüringen bekomme sie viele Anfragen von Menschen mit Migrationsgeschichte, sagt die Migrationsbeauftragte Reem Alabali-Radovan. Diese Gruppe sei besonders häufig von Rassismus betroffen und blicke besorgt in die Zukunft - auch angesichts einer Debatte über Migration, die Einwanderung pauschal als Problem darstelle. Sie rate politischen Akteuren hier »verbal abzurüsten«. 

Der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein verweist wiederum auf teils unerträgliche Bedingungen für Jüdinnen und Juden in Deutschland, die hierzulande ihre Identität häufig verstecken müssten. Seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober des vergangenen Jahres gebe es deutlich mehr Übergriffe. Die Zahl der antisemitischen Straftaten habe sich im Jahr 2023 nahezu verdoppelt und einen Höchststand erreicht.

Was für Klein vor allem wichtig wäre: Eine Aufnahme des Merkmals »Staatsangehörigkeit« als Diskriminierungsgrund in das AGG. So könne die Benachteiligung israelischer Staatsbürger künftig besser verhindert werden - wie das aktuell etwa bei der Airline Kuwait Airways geschehe, die sich weigere, israelische Passagiere zu befördern und damit durchkomme.

Sinti und Roma häufig von staatlichen Behörden ausgegrenzt

Der Antiziganismusbeauftragte Mehmet Daimagüler betont, dass in Deutschland keine Gruppe so sehr von staatlicher Ausgrenzung betroffen sei wie Sinti und Roma. »Das ist eine Schande.«

Es gebe Berichte von Sinti und Roma aus der Ukraine, die darüber klagten, nicht als »richtige« Ukraine-Geflüchtete wahrgenommen zu werden. Ihnen werde von Teilen der Bevölkerung unterstellt, es nur auf Sozialleistungen in Deutschland abzusehen. Daimagüler warnt, dass dies »der Treibstoff« sei, der Worte in Anschläge verwandele. 

Auch der Queerbeauftragte Sven Lehmann beklagt Angriffe auf Menschen, die Teil der LGBTQ-Community sind - also unter anderem Schwule, Lesben und Transsexuelle. Es habe noch nie so viele Christopher-Street-Day-Feiern wie in diesem Jahr gegeben, aber auch noch nie so viele Angriffe, beklagt Lehmann. 

Besorgt ist auch der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, der darauf aufmerksam macht, dass in Deutschland 13, 7 Millionen Menschen mit Behinderung leben würden. Das seien mehr als die Einwohner Bayerns: »Menschen mit Behinderung sind Bürgerinnen und Bürger dieses Landes«, sie seien keine Randgruppe. Und dennoch gebe es große Lücken bei der Barrierefreiheit. 

Nur 25 Prozent der Arztpraxen barrierefrei

Das Angebot der Deutschen Bahn nennt Dusel in diesem Punkt »verheerend«. Und auch nur 25 Prozent der Arztpraxen seien barrierefrei. Das sei ein unhaltbarer Zustand.

Hoffnung gibt Dusel, dass sich die Bundesregierung immerhin darauf verständigt habe, das Behindertengleichstellungsgesetz zu ändern, um auch private Anbieter von Produkten und Gütern zur Barrierefreiheit zu verpflichten. Das sei bislang nicht der Fall. Er hoffe, dass die Regierung wenigstens dieses Gesetz nun zügig voranbringe. dpa

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