von Steffen Reichert
Wenn es nach Jutta Dick geht, dann ist der Fahrplan klar. Irgendwann im Sommer dieses Jahres, wenn die Zeit der Frühblüher vorbei ist und die Sonne ihre volle Kraft erreicht, wird man sich an die Einwohner von Halberstadt wenden. Man wird die Bürger des Städtchens im Ostharz herzlich einladen, mit Samen verschiedenster Pflanzen an den dunklen Platz zwischen den Häusern am Rosenwinkel zu kommen und ihnen anbieten, den Samen dort auszusäen und so ein Zeichen zu geben, dass hier etwas Neues wächst. Und wenn der Fahrplan dann eingehalten wird, woran es derzeit keinen Zweifel gibt, dann wird am 20. November bereits zu sehen sein, wie die ersten zarten Pflänzchen kraftvoll wieder durch die Erde brechen.
Dieser 20. November ist ein wichtiger Tag für Halberstadt und ein schmerzvoller zugleich. Genau 70 Jahre zuvor musste die seinerzeit 700 Mitglieder starke jüdische Gemeinde der Stadt ihre barocke Synagoge auf eigene Kosten abreißen lassen – das städtische Bauordnungsamt hatte die »im Zuge der Volksempörung« während der Pogromnacht verursachten statischen Mängel für irreparabel erklärt. Dass die Synagoge damals nicht niedergebrannt, sondern lediglich geplündert wurde, war nur ihrem zentralen Ort im Zentrum der Stadt zu verdanken.
Heute, 70 Jahre später, hat die Moses-Mendelssohn-Akademie die Reste des erhaltenen Fundaments freilegen, den Torastein hervorheben und den »Denk-Ort« mit Wegen begehbar machen lassen. Jüdisches Leben, so ist Akademieleiterin Jutta Dick denn auch mehr denn je von der Idee überzeugt, kehrt Stück für Stück in die rund 40.000 Einwohner zählende Kreisstadt zurück.
Gab es nach der Schoa keine Juden mehr in dem Ort, so leben heute bereits wieder 120 zugewanderte jüdische Familien in der Domstadt. Und doch ist sich Jutta Dick nicht sicher, ob das Denkort-Experiment auch gelingt. »Ich hoffe, dass die Halberstädter das neue Ensemble nicht einfach nur als ordentlich begrünte Ecke wahrnehmen«, sagt sie. Denn lange galt der Platz an der ehemaligen Synagoge als Schandfleck der Kommune. Doch mit der finanziellen Unterstützung der Verwaltung, mit eingesammelten Spenden und viel privatem Engagement ist etwas sichtbar in Bewegung gekommen.
Die 1995 in Sachsen-Anhalt gegründete Akademie hat sich in den vergangenen zwei Jahren mehr denn je zum Ansprechpartner für Touristen, für zeitgeschichtlich Interessierte und Journalisten entwickelt. »Das Judentum in seiner Vielfältigkeit zu zeigen, ohne dabei zu missionieren«, so umreißt die Akademieleiterin die Aufgabe ihres Teams, das auch viele Ehrenamtliche integriert. Inzwischen ist es ein kleines Dreieck am Rosenwinkel, das dem jüdischen Leben im Ort Halt gibt – und das, obwohl die öffentliche Förderung mehr als nur knapp ist und nur einen Bruchteil der tatsächlichen Kosten deckt.
Das Dreieck wird zum einen aus der Akademie gebildet, die mit ihren Veranstaltungen immer wieder Gäste aus nah und fern anlockt. Ob Ausstellungen oder Symposien, Diskussionen oder Konzertabende: »Wir erleben, dass uns auch zunehmend ausländische Gäste besuchen«, sagt Dick. Aus gutem Grund: Selten kann so kompakt wie in Halberstadt gezeigt werden, wie jüdisches Leben auf eine Stadt ausgestrahlt, sie befruchtet hat und wie es dann systematisch vernichtet worden ist – 1942 wurden die letzten Juden deportiert.
Da gibt es als zweiten Eckstein das nach der renommierten Unternehmerfamilie benannte Café Hirsch, in dem Küche nach jüdischen Rezepten angeboten wird und das sich inzwischen so erfolgreich etabliert hat, dass man künftig auch abends öffnen will. Die aus der früheren Sowjetunion zugewanderten Köchinnen sind mit ihren Kenntnissen ein Glücksfall. Zweifellos ist das Café eine kulturelle Bereicherung in der Harzregion, die deutschlandweit immer wieder wegen rechtsradikaler Übergriffe in die Schlagzeilen gerät und sich mehr denn je gegen den Ruf zur Wehr setzt, rechtsextreme Hochburg zu sein.
Und schließlich, der dritte wichtige Punkt des Dreiecks, hat die Akademie mit viel Mühen vor sieben Jahren ein Museum eröffnet, das nach dem Halberstädter Hofjuden Berend Lehmann benannt ist und sich deshalb insbesondere mit der deutsch-jüdischen Geschichte Preußens beschäftigt. Im Mikwehaus wird außerdem über die Halberstädter Juden berichtet. »Wir wollen und können ihnen damit ein Gesicht geben und der Anonymität entreißen«, sagt Jutta Dick.
Das Motto »Gesicht zeigen« wird die Arbeit der Akademie auch in der nächsten Zeit bestimmen. Das Bundesarchiv in Karlsruhe arbeitet derzeit an einer erweiterten Auflage des Gedenkbuches für die Opfer der Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945. Weil die Halberstädter Volkszählungsakten aus dem Jahr 1938 fehlen, sind die Opfer aus der Stadt bislang kaum erwähnt. Nun will die Akademie gemeinsam mit Schülern des Martineum-Gymnasiums diese Lücke schließen. Name für Name soll erforscht werden, und es wird damit ein Projekt, das die Vergangenheit der Stadt an vielen Punkten sehr intensiv berühren wird. Schmerzhafte Erfahrungen sind nicht auszuschließen.
So stieß eine Schülerin beim Durchsehen der städtischen Bauakte zum Synagogenabriss 1938 auf den Namen ihres Großvaters. Er war fein säuberlich auf dem Stun denzettel der beauftragten Firma vermerkt.