Krieg in Gasa

40 Kilometer Angst

von Sabine Brandes
und Ingo Way

»Am Israel Chai« – das israelische Volk lebt. So steht es auf einem handgeschriebenen Transparent am Ortseingang von Aschdod. Ja, die Israelis leben. Eine Million von ihnen im Moment aber nicht gut, sondern in ständiger Angst vor Tod und Zerstörung.
Zusammengepfercht hocken Männer, Frauen und Kinder Tag und Nacht in Schutzräumen oder rennen permanent rein und raus, die gellende Sirene fast ununterbrochen im Ohr. Seit dem Ende der Waffenruhe starben mindestens fünf Israelis durch die Hamas-Raketen, Dutzende wurden verletzt.
Immer weiter reichen die Raketen der Hamas aus dem Gasastreifen ins israelische Kernland hinein, bedrohen mehr und mehr Menschen. Am Sonntag schlugen über 50 Geschosse in verschiedenen Ortschaften des Südens.
Ebenfalls im Zielradius ist nun auch die Hafen- und Küstenstadt Aschdod, die ziemlich genau 30 Kilometer von Gasa entfernt liegt. Mit 230.000 Einwohnern ist Aschdod Israels fünftgrößte Stadt. Sie ist bekannt für ihr lässiges Savoir-vivre, bedingt durch die vielen französischen Immigranten und die schier endlosen feinen Sandstrände. Doch jetzt herrscht in Aschdod eine andere Realität, man hat Angst vor Raketen.
Was die Stadt gerade erlebt, ist das, was man in Sderot seit 2001 kennt. Beinahe täglich wird die Kleinstadt beschossen – auch während des seit Juni herrschenden Waffenstillstands. Mehr als 5.000 Raketen sind in den vergangenen sieben Jahren hier eingeschlagen. Davon zeugen Löcher in vielen Straßen und Häusern.
Alle paar Meter steht ein Bunker am Straßenrand, in den die Passanten während des Bombenalarms flüchten können. Darin stinkt es erbärmlich, denn nachts werden die Schutzräume gern als Urinale zweckentfremdet.
Das Frühwarnsystem funktioniert sehr gut, aber Gasa ist nah, und zwischen dem Sirenenalarm und dem Einschlag der Rakete vergehen nur 15 Sekunden. Ella Abukasis hat es vor vier Jahren nicht geschafft. Die 17-Jährige war auf dem Weg nach Hause, sie hatte nur noch ein paar Meter bis zur Tür, da schlug die Rakete neben ihr ein. Sie wurde schwer verletzt und starb ein paar Tage später im Krankenhaus.
In Aschdod haben die Menschen mehr Zeit. 30 bis 45 Sekunden bleiben hier vom Sirenenton bis zum Einschlag. In dieser Zeit muss ein sicherer Raum erreicht werden – egal, wo man ist und was man gerade tut.
Für die beiden Schwestern, die am vergangenen Montag aus dem Fitnessstudio kamen, reichte die Zeit nicht. Gerade, als Irit und Ajelet Schitrit ins Auto stiegen, knallte neben ihnen eine Gradrakete in den Boden. Zwar schaffte es Irit noch, sich unter das Fahrzeug zu werfen, doch die Schrapnellen trafen ihren ganzen Körper. Sie starb noch am Unglücksort, ihre Schwester wurde schwer verletzt.
In Sderot hat man gelernt, mit dieser Bedrohung zu leben. Das gute Frühwarnsystem und die zahllosen Bunker sorgen dafür, dass es in sieben Jahren nur zwölf Tote gab. Aber 28 Prozent der Erwachsenen und 30 Prozent der Kinder in Sderot leiden unter posttraumatischem Stress, und über 75 Prozent aller Kinder zeigen zumindest leichte Symptome davon.
In Aschdod fürchtet man, dass diese Dauerangst vor Raketen auch hier Alltag wird. Die Strandcafés in der Küstenstadt haben auch im Winter geöffnet, wenn das Wetter es zulässt. Die Temperaturen würden es derzeit durchaus erlauben, die Situation aber nicht.
Seit einigen Tagen herrscht Alarmzustand in Aschdod. Immer wieder schlagen die weitreichenden Gradraketen ein, vor wenigen Tagen trafen sie ein siebenstöckiges Haus, richteten erheblichen Schaden an. Dass es dabei lediglich Leichtverletzte gab, ist der Aufmerksamkeit der Behörden zu verdanken.
Rund um die Uhr laufen Radioansagen zu Sicherheitsmaßnahmen – auf Hebräisch, Englisch, Französisch, Russisch, Amharisch und in anderen Sprachen, Aschdod ist eine Einwandererstadt. Während des Alarms ist der Alltag streng reguliert: Außerhalb der Bunker sind Menschenansammlungen verboten. Keine Schule, keine Gottesdienste, keine Konzerte. Nicht mal eine kleine Geburtstagsparty.
Wohin sich das Leben in Aschdod entwickelt, lässt sich in Sderot besichtigen. Abends noch einen kleinen Spaziergang zu machen, ist hier nicht üblich. Jederzeit könnte eine Kassamrakete einschlagen, man muss ständig darauf achten, dass ein Bunker in Reichweite ist. Sderot ist bei Dunkelheit wie ausgestorben, die Leute sitzen in ihren Wohnungen. Nur ein paar Jugendliche hängen auf der Straße herum, immer in der Nähe eines Bunkers.
Schon vor dem Ende des Waffenstillstands sah man auch tagsüber kaum Kinder auf der Straße und auf den Spielplätzen. Von den ehemals 26.000 Einwohnern sind mittlerweile 6.000 weggezogen. Es lohnt sich kaum, hier noch etwas anzufangen, denken viele.
Ronit hat im Kibbuz Nir-Am, der direkt an Sderot angrenzt, vor ein paar Jahren mit anderen Kibbuzniks ein indisches Restaurant eröffnet. Als sie im Mai 2007 gerade im Urlaub in Indien war, traf eine Kassamrakete ihr Restaurant, das »Namaste«. Das Gebäude und die Einrichtung wurden zerstört, die Versicherung hat bis heute nicht gezahlt. »Wozu das Geschäft wieder aufbauen?«, fragt sie. Als die Hamas ihre Angriffe auf Sderot am Samstag nach Weihnachten verstärkte, flüchtete sie mit ihrer Mutter zu Verwandten nach Tel Aviv. Sie erwägt, ganz dorthin zu ziehen. Zuvor hatte sie es immer abgelehnt, ihren Kibbuz zu verlassen.
Wie vielen in Sderot geht es inzwischen auch Ilan Itas in Aschdod. Der Taxifahrer saß im Kellerschutzraum seines Wohnblocks, als eine Rakete ins Nachbargebäude knallte. »Wir sind richtig durchgeschüttelt worden. Es ging durch Mark und Bein«, sagt er. »Die Menschen fingen an zu zittern, die Kinder schrien. Es war einfach furchtbar.« Am Morgen darauf schickte Ilan Itas seine Frau und die Schwiegermutter nach Haifa. »Sie sind bei Verwandten untergekommen, es ist zwar eng, aber immerhin sicher.« Er selbst wollte nicht mitgehen. »Wir können doch nicht auf mein Einkommen verzichten«, sagt er. Doch der 35-Jährige steht oft vergeblich mit seinem Taxi vor dem Busbahnhof.
Anders als Sderot ist Aschdod ein strategisch wichtiger Punkt auf der Landkarte. Die Stadt verfügt über einen großen internationalen Hafen, viel Industrie und ist kaum mehr als 20 Kilometer von Tel Aviv entfernt. Wird die Hamas nicht in die Schranken gewiesen, ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis ihre Terrorgeschosse auch die Metropole erreichen. Davon sind hier fast alle überzeugt. Am Dienstag schlug zum ersten Mal eine Rakete in Gedera ein, 40 Kilometer nördlich von Gasa. Ein Baby wurde leicht verletzt.
Bevor die Hamas in Gasa die Macht an sich riss, gab es in manchen Bereichen so etwas wie ein Miteinander. Ami Kaslasy, in den 90er-Jahren Polizeichef des Bezirks Sderot, erinnert sich, dass er damals mit einem seiner Kollegen aus Gasa befreundet war. Man arbeitete gut zusammen, lud einander zum Essen ein. Gemeinsam ging man gegen Terroristen vor, die es auch damals schon gab. Nur sei dies noch kein Massenphänomen gewesen, sagt der 60-Jährige. Die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern waren gut. »Die Leute im Gasastreifen haben uns nicht gehasst, bevor die Terroristen ihnen die Gehirne gewaschen haben. Ich hoffe, dass die Palästinenser in Gasa irgendwann befreit werden, und zwar aus dem Würgegriff der Terroristen.«
Trotz des Kriegszustands hatten Ami Kaslasy und seine Frau Lilian zunächst beschlossen, in Sderot zu bleiben, wo sie seit fast 50 Jahren leben. Doch als Ami wenig später in Beer Schewa miterlebt, wie eine Rakete die beiden oberen Stockwerke eines Hochhauses vollständig zerstörte, da verspürt er zum ersten Mal seit Jahren Todesangst. Er fuhr nach Sderot, lud Lilian ins Auto, und die beiden fuhren nach Holon bei Tel Aviv, zu ihrem Sohn. Einige Tage später wurde das Haus ihrer Nachbarn von einer Rakete aus dem Gasastreifen zerstört und eine Bewohnerin verletzt. Alltag im Süden Israels.

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