Momentaufnahme

Heißer Sommer

Keine Zeit. Das ist die Standardantwort dieser Tage. Hastigen Schrittes eilen israelische Väter und Mütter von einer Abschlussveranstaltung zur nächsten. Karate beim Sohn, Tanzen bei der Tochter, Pfadfinder und Zeugnisvergabe bei beiden. Israelische Kinder sind vielbeschäftigt – und so sind es ihre Eltern. Doch der Sommer läutet nicht nur Schulschluss und Badesaison ein. Auch die Bedrohung hat Hochkonjunktur in den heißen israelischen Monaten von Juli bis September.

Tagelanger Bombenhagel im Süden des Landes, gewalttätige Sozialproteste, islamistische Wahlsieger beim ägyptischen Nachbarn, ein immer instabilerer Sinai – und über allem schwebt die Gefahr eines atomar bewaffneten Iran. Nicht gerade ein Flair, das man sich für idyllische Ferien wünscht.

Angriff Es ist ein gängiger Witz, dass wieder irgendwelche bewaffneten Kämpfe losgehen, sobald die Fußballer der Welt ihre letzten Tore geschossen haben. »Sitzen die Araber nicht mehr vor dem Fernseher und gucken Fußball, haben sie Langeweile und greifen uns an«, sagt Motti Maimon halb im Scherz, halb im Ernst. Tatsächlich brach der Libanonkrieg zwischen Israel und der Hisbollah nur drei Tage nach dem Schlusspfiff der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 aus.

Auch was dieses Jahr angeht, sieht der Handwerker schwarz. Allerdings setzt er nicht unbedingt darauf, dass Israel etwas gegen den Iran und dessen Atomprogramm unternimmt, sondern auf eine Auseinandersetzung mit Ägypten. »Nachdem klar ist, dass die Radikalen auch dort an der Regierung sind, haben wir einen neuen Feind direkt neben uns«, ist der Mann aus Netanja sicher. »Sie werden uns sehr schnell zeigen, dass sie an keinem Friedensvertrag interessiert sind.«

Sicherheitsräume Räumen die Israelis ihre Waschmaschinen und Trockner schon aus den Sicherheitsräumen ihrer Häuser, um im Ernstfall Platz für die ganze Familie zu haben? Revital Levi erwägt das allen Ernstes. Sie lebt in Bat Jam, südlich von Tel Aviv. »Die Bomben aus Gaza kommen bis Aschdod, das ist praktisch um die Ecke. Alle sagen, es sei nur eine Frage der Zeit, wann sie in Tel Aviv einschlagen. Ich bin lieber vorbereitet.«

Trotzdem geht das Leben in Israel in den meisten Gegenden seinen gewohnten Gang. Niemand macht Hamsterkäufe oder packt Koffer für die Ausreise im Kriegsfall. In Israel herrscht Eskapismus, sagt Oz Almog, Soziologieprofessor aus Haifa, knapp. Sich auf Banalitäten zu konzentrieren und seinen Alltag so gut wie möglich weiterzuführen, sei eine menschliche und normale Reaktion auf ständige Bedrohung.

Die Menschen im Süden des Landes haben nicht die Wahl, ob sie Ablenkung suchen wollen oder nicht. 2010 landeten 238 Bomben aus dem Gazastreifen in der Gegend, 2011 waren es 653, in diesem Jahr bereits 498. Die ständige Gefahr ist real. Wachsamkeit und schnelles Reagieren sind überlebenswichtig.

Raketenalarm Avi Misrachi lebt seit Jahren mit dem palästinensischen Raketenterror. Der Familienvater aus Sderot kann sich kaum an einen Alltag ohne »Schachar Adom« erinnern. Fast täglich schrillt das Warnsignal durch die Kleinstadt. »Dann rennen wir sofort in den nächsten Schutzraum. Egal, wo wir gerade sind«, erklärt Misrachi. »Draußen werfen wir uns auf den Boden oder hoffen in den Autos, dass es uns nicht trifft.« Doch es sei nicht nur die ständige Unterbrechung, die das Leben schier unerträglich macht. »Es ist die Angst, dass bei den Kindern in der Schule eine Rakete einschlägt, dass die nächste wirklich ein Treffer ist. Sie ist immer da.«

Gewalt Auch ohne permanenten Bombenhagel beklagen sich viele Israelis über das »harte Leben«. In einer neuen Umfrage von »Haaretz Dialog« gaben mehr als zwei Drittel an, Proteste gegen soziale Ungerechtigkeit seien nach wie vor gerechtfertigt. Allerdings ist die Mehrheit zerstritten, wer für die Gewalt bei den Demonstrationen vom vergangenen Wochenende verantwortlich war. Ein Drittel meint, die Polizei habe exzessive Gewalt angewandt, ein weiteres, Protestierer hätten als erste zugeschlagen. Etwa 30 Prozent sagen, beide Seiten seien gleichermaßen Schuld.

Gayil Talshir erkennt die Logik hinter der Entwicklung. Während es 2011 hauptsächlich um Sozialpolitik gegangen sei, erwartet die Dozentin für politische Wissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem, »dass heute eher die Sorge um die Demokratie die Leute auf die Straße treibt. Auch die Frage, was es bedeutet, im 21. Jahrhundert Israeli zu sein, wird eine Rolle spielen.«

Die Regierung sei definitiv sehr unglücklich über das erneute Aufkeimen der Sozialproteste, so Talshir. »So kurz vor der Wahl wollen sie das nicht sehen.« Eine Methode der Regierung sei die Delegitimierung der Proteste, glaubt die Expertin. »Ein übertriebenes Aufgebot an Polizeikräften schürt Gewalt – das ist ein bekanntes Phänomen.«

Talshir wagt einen Ausblick auf den Sommer: »Die Sozialproteste werden weitergehen, aber in einer anderen Qualität. Höchstwahrscheinlich werden es weniger Teilnehmer sein, die deutlichere und ag- gressivere Botschaften senden. Denn die wenigsten Israelis gehen hin, wenn dabei Steine fliegen. Demos als Ferienaktivität für die ganze Familie – das ist passé.«

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