Porträt der Woche

Mit Klischees aufräumen

»Ich will dafür sorgen, dass alle bei unseren Programmen mitmachen können«: Ariella Naischul (19) aus Stuttgart Foto: Brigitte Jaehnigen

»Moralapostel« haben sie mich irgendwann mal im Gymnasium betitelt. Das war im Gemeinschaftskunde-Unterricht. Wir waren ein Haufen Jungs und drei Mädchen. Die Jungs stammten mehrheitlich aus FDP-Familien. Freie Marktwirtschaft und freie Fahrt für freie Bürger und so. Also eine ganz andere Weltvorstellung, als ich sie hatte. Doch davon ließ ich mich nicht unterkriegen und war ein Teil der wöchentlichen Diskussionen bei Themen wie Gleichberechtigung, Inklusion und vielem mehr. Schon damals hatte ich ein starkes Rechtsbewusstsein.

Bereiche wie mangelnde Sprachkenntnisse, Armut und fehlende Integrationsmöglichkeiten beschäftigten mich schon frühzeitig. Einige Schüler und Schülerinnen vertraten die Ansicht, wer die deutsche Sprache nicht richtig lernen wolle, sei selbst schuld an seinen Schwierigkeiten. Ich hielt dagegen und sagte, dass es so einfach nicht sei. Das wusste ich aus eigenem Erleben.

Ich wurde in Deutschland geboren, aber meine Familie kommt aus Lettland. Zu Hause wurde nur Russisch gesprochen, somit musste ich mir die deutsche Grammatik selbst beibringen. Schon in der Schule fühlte ich ganz stark: Als jüdische Person mit liberalen Ansichten muss ich anderen helfen.

Schon in der Schule spürte ich ganz stark: Als Jüdin muss ich anderen helfen.

Nicht alle Lehrer und Lehrerinnen geben die Unterstützung, die Schüler brauchen. Ich finde, Lehrer dürfen nicht nur an die Stoffvermittlung denken, sondern tragen einen wichtigen Teil zum sozialen Leben der Schüler bei.

In der Uni ist es ganz anders: Die Professoren und Professorinnen sprechen nur über die Inhalte und kennen uns als Individuen nicht. Die Lehrer hingegen kennen nicht nur die Namen, sondern wissen, wer welche Förderung und Unterstützung benötigt – sie können sich aktiv in die Entwicklung der jungen Menschen einbringen. Die wenigsten tun es auch. Ich finde, in den Familien wie in der Gesellschaft brauchen wir mehr Dialogfähigkeit und Altruismus.

SCHUTZ Das gilt erst recht für Themen wie Inklusion und Antisemitismusbekämpfung. Nur, wie will man in einem Gymnasium wie meinem früheren Inklusion leben, wenn das Gebäude unter Denkmalschutz steht? Angeblich darf kein Aufzug eingebaut werden, obwohl dadurch die Barrierefreiheit ermöglicht wird. Ich frage mich: Geht Denkmalschutz über Menschenschutz?

Grundsätzlich finde ich unser Grundgesetz in Ordnung. Aber ich frage mich auch: Wie sieht es mit der Umsetzung aus? Zum Beispiel bei der Religionsfreiheit. Darf eine muslimische Richterin ihr Kopftuch nur in der Freizeit und nicht im Amt tragen? Und reichen Bauordnungen zur Umsetzung von rollstuhlgerechtem Bauen, um Inklusion zu leben?

Persönlich finde ich, dass die Gesetze die Vorlage für Veränderungen in unserer Gesellschaft sind. Das ist auch historisch belegbar, wenn wir uns das Recht auf freie Sexualität anschauen. Gleichzeitig ermöglichten die Gesetze menschenunwürdige Verbote, die unser Volk im sogenannten Dritten Reich zu spüren bekam. Gesetzliche Veränderungen sind auch mit Vorsicht zu betrachten.

JUGENDZENTRUM Und so studiert der »Moralapostel« jetzt Jura in Heidelberg. Ich hatte mich an verschiedenen Universitäten beworben, bin dann aber doch in Heidelberg angenommen worden. Hier ist der Numerus clausus ziemlich hoch, aber mit meinem Abidurchschnitt von 1,5 hat es geklappt.

Jetzt wohne ich erst einmal im Wohnheim und fahre regelmäßig mit dem Zug zur Familie nach Stuttgart. Dort ist auch meine Gemeinde, die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs.

In der Schule war ich die einzige Jüdin.

Schon seit längerer Zeit bin ich als Inklusions-Madricha im Jugendzentrum Halev tätig. Zu uns kommen etwa 20 bis 30 Kinder und Jugendliche, zwei haben Einschränkungen. Früher saßen sie auf der Couch und haben zugeschaut, wenn die anderen etwas Anspruchsvolleres spielten. Heute sind sie aktiv bei all unseren Veranstaltungen und Ausflügen dabei.

Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass alle Kinder bei unseren Programmen mitmachen können. Wenn wir unseren Jahresausflug planen und unternehmen, bin ich auch die Ansprechpartnerin für die Eltern. Sie wollen ja sicher sein, dass ihre Kinder wieder heil nach Hause kommen.

JSUD In diesem Jahr habe ich gemeinsam mit der Jüdischen Studierendenunion Württemberg (JSUW) eine offene Inklusionswoche für die Gemeinde organisiert. Die Veranstaltungen mussten der Pandemie wegen online durchgeführt werden, aber es war ein guter Anfang.

Das Gemeindehaus hat nach umfangreicher Sanierung nun auch einen behindertengerechten Zugang. Wer sich Inklusion auf seine Fahnen geschrieben hat, muss etwas tun. Eigentlich finde ich Begriffe wie Inklusionsbeauftragte oder Inklusionskind nicht wirklich inklusiv, aber wir brauchen sie noch. Sonst fühlt sich keiner zuständig, etwas zu verändern.

Das Jugendzentrum ist auch ein sicherer Ort für unsere Themen und unser Jüdischsein. Wir haben eine koschere Küche, wir beten vor dem Essen, und die Jungs haben eine Kippa auf.

FAMILIE Ich bin säkular aufgewachsen. Inzwischen übe ich mich in Ritualen zu Rosch Haschana oder am Schabbat. In der Schule war ich die einzige Jüdin. Antisemitismus habe ich wenig erlebt. Aber es gibt offenbar ein Alter bei Jungs, wo sie gern Hitler imitieren und das lustig finden. Einer hat sich mal vor mir mit dem Hitlergruß aufgebaut und gesagt: »Ariella, du Jüdin, die Nazis werden dich holen.«

Wenn ich Klavier spiele, kehren die schönen Erinnerungen an meine Kindheit zurück.

Es war in der 7. Klasse. Ich war völlig überfordert und verkroch mich auf der Toilette. Eine Mitschülerin folgte mir und sagte: »Übertreib jetzt nicht. Das ist kein Grund, sich jetzt in den Mittelpunkt stellen zu wollen.« Das war für mich viel schlimmer als das, was der Junge getan hatte. Jüdisch zu sein, ist ein Teil von mir, aber ich möchte nicht nur darauf reduziert werden.

Zeitgleich zum Studium habe ich mich beim Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) für ein Stipendium beworben. Das Studienwerk vertritt die gleichen Werte und Normen wie ich. Neben der finanziellen Förderung ist die ideelle Förderung wichtig. Dass ich das Stipendium bekommen habe, freut mich umso mehr, weil es eine jüdische Stiftung ist.

MUSIK Aber auch in dem Verein Coexister e.V. bin ich aktiv. Coexister steht für Religionsfreiheit, Akzeptanz und gegenseitiges Verständnis. Durch den Austausch soll das Miteinander auf empathische und friedliche Art gefördert werden.

Und dann habe ich noch die Musik, seitdem ich sechs Jahre alt bin. »Willst du ein Instrument spielen?«, fragte mich meine Mutter eines Tages.

Ich war sehr angetan und dachte an die Querflöte, weil man da so schön steht. Doch dann war ich mit dem Klavier sehr erfolgreich: bei »Jugend musiziert« bis zur Bundesebene und bei mehreren Karl-Adler-Jugendmusikwettbewerben. Unser Quartett hat 2019 im Stuttgarter Rathaus bei der Eröffnung der Jüdischen Kulturwochen gespielt.

Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, dass sie in die Anschaffung eines Klaviers investiert und den Unterricht an der Stuttgarter Musikschule finanziert haben. Immer, wenn ich Klavier spiele, kehren die schönen Erinnerungen zurück.

ZIELE In den ersten Studienwochen in Heidelberg waren wir alle sehr verloren. Jeder hatte den Drang, irgendwie Freunde zu finden. Aber das wird noch. Das Klischee, Jurastudierende seien alle etwas spröde, kann ich nicht bestätigen. Bei uns gibt es alles: auch die »Ich probier’ mich mal aus«-Typen mit bunten Haaren.

Heidelberg hat eine wunderschöne neue Synagoge. Dorthin werde ich an einem Schabbat gehen, sobald mein Umzug geschafft ist und ich mich stärker in der Stadt orientiert habe.

Ich habe ein starkes innerliches Verlangen, mit jüdischen Menschen zusammen zu sein.

Ja, ich bin schon sehr zielorientiert. Nach dem Abschluss des Studiums möchte ich in die Staatsanwaltschaft gehen. Und wenn ich genügend juristische Erfahrungen habe, in die Politik, um meine Hauptthemen Inklusion, Bildung und Antisemitismusbekämpfung voranzutreiben.

Und ja, ich bin auch sehr familienorientiert und möchte neben der beruflichen Entwicklung eine jüdische Familie gründen. Ich habe ein starkes innerliches Verlangen, mit jüdischen Menschen zusammen zu sein. Das liegt wohl daran, dass wir als Volk immer weltweit verstreut waren und es noch sind.

Ich habe also noch viel vor und hoffe, die Welt ein Stückchen besser machen zu können.

Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen

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