Porträt der Woche

»Ich lebe gern die Tradition«

Orly Herlich ist Wirtschaftsjuristin und hat mit ihrem Vater ein Fotobuch gemacht

von Eugen El  12.12.2020 17:36 Uhr

»Ich möchte Freunde und Familie im Leben haben«: Orly Herlich Foto: Rafael Herlich

Orly Herlich ist Wirtschaftsjuristin und hat mit ihrem Vater ein Fotobuch gemacht

von Eugen El  12.12.2020 17:36 Uhr

Ich bin 1995 in Frankfurt am Main geboren und dort auch aufgewachsen. Dort besuchte ich die jüdische Grundschule. Danach war ich auf einem Gymnasium, bis ich für mich entschied, dass mich Wirtschaft interessiert. Es war der richtige Schritt. 2013 habe ich mein Fachabitur in Wirtschaft und Verwaltung gemacht.

Zum 18. Geburtstag schenkten mir meine Eltern einen großen Koffer und einen zweimonatigen Sprachkurs an der Universität in Haifa. Ich bin mit meinen wichtigsten Dingen dorthin gereist. Meine Mutter ist Österreicherin, mein Vater ist Israeli. Sie haben sich in Frankfurt kennengelernt und entschieden für sich, in Deutschland zu bleiben.

Zu Hause sprechen sie Deutsch. Deswegen habe ich Hebräisch zwar immer schon im Hintergrund gehabt, oft gehört und in der jüdischen Grundschule auch Grundlagen gelernt. Aber ich wollte es auf ein noch professionelleres Level bringen und Hebräisch im Sprachkurs erlernen.

ALIJA Schon am zweiten oder dritten Abend rief ich meine Eltern aus Haifa an und sagte: Es war vielleicht doch nicht die richtige Idee, mir diesen Sprachkurs zu schenken, denn ich bin jetzt schon verliebt in dieses Land und kann mir vorstellen, dass ich dort etwas länger bleiben werde.

Nach dem Sprachkurs bin ich erst einmal wieder nach Frankfurt zurückgekehrt. Ich habe mich aber sehr schnell entschieden, dauerhaft in Israel leben zu wollen. Ich habe meine Sachen gepackt, einen Antrag auf Alija gestellt und die israelische Staatsbürgerschaft angenommen. Schon einen Monat später bin ich in Israel eingereist. Mein Vater hat mich damals noch begleitet, um mir bei den organisatorischen Dingen zu helfen.

Zuerst bin ich für ein paar Monate nach Haifa gegangen, weil ich dort Familie habe. Dann bin ich in den Kibbuz En Haschofet im Norden Israels gezogen. Es ist eine abgelegene, wunderschöne Gegend. Ich habe an einem Programm teilgenommen, das einen zweimal pro Woche stattfindenden Sprachkurs und Arbeit in der Kibbuz-Gemeinschaft beinhaltet. Dort habe ich mit Kindern gearbeitet. Ich bin etwa drei Jahre in dem Kibbuz geblieben. Dort konnte ich mein Hebräisch auf ein anderes Niveau bringen.

In Israel bin ich grundlegend achtsamer geworden.

2014 wurde ich ins israelische Militär eingezogen. Nach der Grundausbildung wurde ich in den Norden Israels eingeteilt und dort eingesetzt. Im ersten Jahr war ich an der Grenze, in der technischen Abteilung des Raketenabwehrsystems, wo man nur alle zwei bis drei Wochen am Wochenende nach Hause fährt. Man ist dort wirklich wie im Feld stationiert und bleibt dort. Es war etwas anderes.

Wenn man in Frankfurt, in der Großstadt, sehr behütet und verwöhnt aufgewachsen ist und dann in das ganz andere Extrem hineinkommt, ist es schon herausfordernd – aber sehr gut. Diese Zeit hat mich wirklich gestärkt und mir viel mitgegeben.

Nach einem Jahr hieß es, dass uns Bundeswehroffiziere besuchen würden. Ich wurde gefragt, ob ich bei diesem Treffen dolmetschen könne. Am Ende des Treffens kam der höchste Offizier meiner Einheit auf mich zu und fragte, warum ich so gut Deutsch sprechen würde. Ich erklärte ihm, dass Deutsch meine Muttersprache ist. Er fragte dann: Aber warum können Sie dann so gut Hebräisch? Ich antwortete: Das habe ich die vergangenen Jahre hier gelernt. Der Offizier fragte mich daraufhin, ob ich seine Assistentin sein möchte. Einen Tag später saß ich in einer anderen Basis in seinem Büro. Ich war Head Office Manager und durfte die Angelegenheiten von drei hochrangigen Offizieren begleiten und managen. Es war eine sehr herausfordernde und schöne Gelegenheit.

FAMILIE Mein Vater ist Fotograf. Ich begleite seine Arbeit und seine Projekte, seit ich klein bin. Während meiner Dienstzeit hat mich mein Vater oft besucht. Dann kam mir die Idee, dass wir ein gemeinsames Buchprojekt beginnen könnten. Mein Status im Militär hieß »Lone Soldier«. Soldaten, deren Eltern nicht in Israel leben, bekommen diesen gesonderten Status und werden außerhalb des Dienstes unterstützt. »Lone Soldiers« können Israelis sein oder Soldaten aus dem Ausland, die sich entschieden haben, in Israel Dienst zu leisten. Wir fanden, dass es wert ist, dieses Thema weiter auszuarbeiten.

Wir haben insgesamt 20 männliche und weibliche Soldaten aus verschiedenen Ländern gescoutet. Es ging uns darum, die Verbundenheit zum Staat Israel und die Beweggründe aufzuzeigen, warum junge Leute ihr gemütliches Leben zu Hause verlassen und nach Israel gehen. Zu dem Projekt ist ein Bild- und Textband auf Deutsch und Englisch erschienen.

Der damalige Armeechef Benny Gantz und der Frankfurter Bürgermeister Uwe Becker haben Vorworte beigesteuert. Das Buch haben wir Zvika Levy gewidmet. Der Mann, der unter dem Namen »Vater der Lone Soldiers« bekannt wurde, verstarb leider 2018. Er half den »Lone Soldiers«, ein Zuhause zu finden und eine Familie, die einen aufnimmt. Er half aber auch in alltäglichen Dingen. Er war auch für mich viel da und hat mir in meinem Dienst geholfen.

Ich hätte mir vorstellen können, in Israel zu studieren. Da ich aber gern in den Bereich Wirtschaft oder Jura gehen wollte, war es für mich einfacher, in meiner Muttersprache Deutsch zu lernen. Ich habe mich noch während meines Pflichtdienstes an der Frankfurt University of Applied Sciences eingeschrieben. Dort habe ich ab 2016 Wirtschaftsrecht studiert: eine für mich spannende Kombination aus Jura und Betriebswirtschaftslehre.

Im Jüdischen Altenzentrum in Frankfurt habe ich ehrenamtlich mit einer Schoa-Überlebenden gearbeitet.

Das Bachelorstudium habe ich ziemlich zügig durchgezogen. Als ich aus Israel zurückgenommen bin, habe ich mich erst einmal auf das Studium konzentriert und war nebenbei ehrenamtlich im Jüdischen Altenzentrum in Frankfurt tätig. Dort habe ich mit einer Schoa-Überlebenden gearbeitet. Ich habe ihr viel Zeit gewidmet, was mir persönlich sehr gutgetan hat. Diese Begegnungen haben mich sehr erfüllt.

Während des Studiums habe ich mich entschieden, dass ich beruflich gern etwas mit Israel machen möchte und meine Sprachkenntnisse nutzen will. Dann habe ich eine Kanzlei gefunden, die einen Israel-Desk hat. Ich bin dort seit zweieinhalb Jahren tätig – mittlerweile, seit meinem Studienabschluss, als Wirtschaftsjuristin und Projektmanagerin.

JIDDISCH Ich hatte von klein auf einen starken Bezug zu Israel. Meine Großmutter hat in Israel gelebt, also bin ich schon als kleines Kind jedes Jahr dort gewesen. Ich sprach Deutsch und meine Großmutter sprach Hebräisch. Die Verständigung lief dann auf Jiddisch ab. Diese Besuche in der Kindheit waren immer auf wenige Wochen beschränkt. Es war Urlaub, Tel Aviv, alles schön und angenehm.

In den dreieinhalb Jahren, in denen ich in Israel lebte, habe ich auch die Erfahrung gemacht, dass es nicht immer einfach ist. Ich habe das Alltägliche viel mehr schätzen gelernt: dass man gutes Essen hat, ein Bett, in dem man schläft. Ich bin grundlegend achtsamer geworden.

Durch diese Erfahrung habe ich verstanden, wie gut es uns in Deutschland geht, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, jetzt erst einmal wieder nach Deutschland zu gehen.

FEIERTAGE Bei uns in der Familie sind jüdische Kultur und Tradition wichtig. Wir begehen gemeinsam alle Feiertage, gehen in die Synagoge, feiern aber auch jeden Freitagabend zu Hause Schabbat. Für uns ist Tradition auch dieses familiäre Zusammensein und das Gemeinschaftsgefühl. Damit sind wir sehr glücklich. Ich bin religiös-traditionell. Ich finde das Judentum sehr schön. Es schafft viele Bezugspunkte im Leben, die Kraft schenken. Ich lebe deswegen gern die Tradition und begehe die Feiertage.

Dieses Jahr bin ich aufgrund von Corona erstmals an Jom Kippur nicht in die Synagoge gegangen. Es war eine neue Erfahrung, zu Hause zu fasten und auf alles zu verzichten. Momentan ist mein Fokus auf meine Arbeit gerichtet. Ich bilde mich gerade im Bereich juristisches Projektmanagement weiter.

Ich möchte gesund bleiben, das ist sehr wichtig. Ich möchte Freunde und Familie im Leben haben, glücklich und achtsam sein, das Leben schätzen, Sport machen. Ich begleite die Projekte meines Vaters, die das Ziel haben, gegen Antisemitismus und Rassismus zu kämpfen. Da bin ich sehr aktiv.
Mittlerweile bin ich Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Ich versuche, mich dort verstärkt einzubringen, denn ich schätze deren Arbeit sehr, Solidarität mit Israel zu zeigen und die Verbindung zwischen Deutschland und Israel zu halten. Das ist mir wichtig.

Aufgezeichnet von Eugen El

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