Porträt der Woche

Der Chef aus Baku

Zvuloon Naftalief verkauft in Frankfurt/Main Fenster und Jalousien

von Canan Topçu  21.05.2012 18:33 Uhr

»Für Hobbys habe ich keine Zeit«: Zvuloon Naftalief in seinem Büro Foto: Judith König

Zvuloon Naftalief verkauft in Frankfurt/Main Fenster und Jalousien

von Canan Topçu  21.05.2012 18:33 Uhr

Meine Abläufe am Morgen sind werktags genau getaktet: Um sechs Uhr stehe ich auf, und wenn ich im Badezimmer fertig bin, wecke ich die Kinder. Kurz vor sieben Uhr treffen wir uns alle unten in der Küche, frühstücken zusammen, und um 7.15 Uhr verlasse ich das Haus. Danach bricht meine Frau mit den Kindern auf, fährt sie zur Schule und kommt ins Büro. Gegen 7.30 Uhr bin ich in der Firma. Ich schaue mir meinen Arbeitsplan an und auch, was im Betrieb so ansteht. Dann teile ich die Touren der Monteure ein.

Im Laufe des Tages habe ich viele Termine, bei Banken und bei Kunden vor Ort. Zwischendurch bin ich im Büro und arbeite am Schreibtisch. Ich bin verantwortlich für mehrere Firmen: für Sonnenschutzsysteme, Fenster und Türen, Bodenbeläge und für Immobilienmanagement. Man muss den Überblick behalten, die Abläufe kontrollieren, die Mitarbeiter im Auge haben.

rückendeckung Meistens dauert mein Arbeitstag bis abends um acht. Es kommt auch vor, dass es noch länger geht. Gestern beispielsweise war ich um neun Uhr noch im Büro. Ich weiß nicht, wie ich es ohne meine Frau schaffen könnte. Sie gibt mir Rückendeckung und unterstützt mich in allem. In der Firma arbeitet sie halbtags, organisiert danach den Haushalt und kümmert sich um unsere Jungs, auch um deren Hausaufgaben. Nur wenn es mit Mathe Probleme gibt, übernehme ich.

Abends, wenn ich nach Hause komme und es noch hell und nicht nass ist, gehe ich mit den Kindern raus in den Garten, Fußball spielen. Der Garten ist sehr groß, fast 1.600 Quadratmeter. Ich habe da zwei Tore gebaut. Die Kinder sagen: »Papa, du hast die Tore gebaut, also musst du mit uns auch Fußball spielen.«

Danach unterhalte ich mich mit den Jungs. Unser Jüngster heißt Marc und ist zehn Jahre alt. Robert ist 18, macht gerade Abitur, und Harry ist 15 Jahre alt. Ich möchte wissen, was bei ihnen los ist, was in der Schule ansteht und welche Noten sie bekommen haben. Damit ich ihre Entwicklung nicht verpasse, versuche ich, so viel Zeit wie möglich mit den Jungs zu verbringen. Das ist meist an den Wochenenden und im Urlaub möglich.

sport Im Haus haben wir auch einen Fitnessraum. Ich bemühe mich, dreimal die Woche zu trainieren. Aber manchmal schaffe ich es einfach nicht, bin zu kaputt. So ganz regelmäßig, wie es den Ärzten vorschwebt, bin ich also nicht sportlich aktiv. Doch im Urlaub schon. Es ist aber nicht so, dass ich mich tagsüber kaum bewege, denn ich habe immer wieder Außentermine und bin, soweit es möglich ist, zu Fuß unterwegs. Früher habe ich mehr Sport getrieben. Ich war sogar israelischer Meister im Gewichtheben.

Ich stamme aus Aserbaidschan. Bis 1978 haben wir in einem kleinen Dorf bei Baku gelebt. Dort gab es damals noch etwa zehn jüdische Familien. Über die niederländische Botschaft hat mein Vater alles geregelt, und wir sind nach Israel ausgewandert. Es war sehr schwierig, aus Russland rauszukommen.

schock Ich war damals 13 Jahre alt. Die Reise dauerte neun Tage. Erst mit dem Zug nach Wien und von dort mit dem Flugzeug nach Tel Aviv. In Israel wurden wir herzlich aufgenommen, trotzdem war es ein Kulturschock für mich. Mein Vater und meine Mutter waren sehr happy, aber ich nicht. Es gelang mir nicht, mich dort einzuleben. Ich wollte nach Europa.

Zwei Jahre später habe ich das dann schließlich in die Tat umgesetzt. Am 3. September 1978 bin ich in Frankfurt am Main angekommen. Diesen Tag vergesse ich nie und feiere ihn, denn er hat mir wirklich nur Gutes gebracht. Ich war knapp 16 Jahre alt und hatte ein paar Adressen von Russen, die aus der Ukraine stammten. Zu denen bin ich dann hingefahren. Sie haben mich mit auf die Baustellen genommen, wo ich mitgearbeitet habe.

Kurze Zeit später habe ich Leute kennengelernt, die einen Imbiss hatten. Ein paar Jahre habe ich bei ihnen im Laden mitgearbeitet und parallel dazu auch meine Abschlüsse gemacht. Schließlich habe ich Betriebswirtschaft studiert.

Liberal Schon während meines Studiums ging ich in Frankfurt in die Synagoge der amerikanischen Soldaten. Das war eine liberale Gemeinde, da habe ich mich wohl gefühlt. Dort lernte ich auch meine Frau kennen. Das war im Februar 1986.

Als meine Frau schwanger war, vor 19 Jahren, haben wir die Firma Anton gegründet. Inzwischen haben wir 60 Mitarbeiter und bilden in kaufmännischen und handwerklichen Berufen aus. Der Betrieb ist auf Fenster, Jalousien, Markisen und Rollläden spezialisiert. Anton ist übrigens der Name meines Vaters. Ich habe ihn aus Respekt und Dankbarkeit gewählt. Leider hat Papa das nicht mehr erlebt. Er ist 1982 in Israel gestorben. Meine Mutter wohnt in Israel, und sie ist sehr glücklich dort. Sie führt einen koscheren Haushalt und kann all die religiösen Gebote einhalten. Das ist ihr wichtig.

Wir essen nicht koscher. Aber wir möchten, dass unsere Kinder wissen, woher sie kommen und wohin sie gehören. Ob sie regelmäßig in die Synagoge gehen und religiös leben, ist mir nicht wichtig, das müssen sie selbst entscheiden. Mir kommt es darauf an, dass meine Söhne mit der jüdischen Kultur aufwachsen. Am Freitagabend feiern wir immer mit ihnen Schabbat und pflegen die Traditionen.

freizeit Die Wochenenden gehören der Familie. Sonntags arbeite ich generell nicht und samstags nur, wenn es sein muss. In der Woche gehen wir eigentlich nie aus, weil ich abends erst spät nach Hause komme. An Wochenenden treffen wir uns mit Freunden, schauen im Kino einen Film an oder essen im Restaurant. Wir haben unterhaltsame Stunden, lachen viel.

Mit unseren Söhnen machen wir oft Kurztrips. Denn längere Urlaube sind wegen der Firma nur selten möglich. Immer ist irgendetwas zu erledigen. Wenn ich mehr als eine Woche weg bin, dann ist der Wiedereinstieg schwer. Im Dezember, zu Ostern und in den Sommerferien machen wir einen etwas längeren Urlaub. Wir sind gern in Amerika und auch in der Türkei, dort fühlen wir uns sehr wohl.

Ich würde gern auch mal wieder nach Aserbaidschan reisen. Ich fühle mich dem Kaukasus sehr verbunden. Wenn ich Menschen von dort treffe, gibt es automatisch eine Verbindung zu ihnen. Ich bin hier unter den kaukasischen Einwanderern bekannt. Wenn sie Hilfe brauchen, klopfen sie mal an, sie laden mich auch zu Hochzeiten ein. Nach unserer Ausreise war ich nie wieder in Aserbaidschan. Es hat sich bisher nicht ergeben. Politisch ist die Lage dort recht schwierig.

Demokratie Ich bin mir aber sicher, dass sich das Volk die Unterdrückung nicht mehr lange gefallen lässt und auch dort die Demokratiebewegung wie in den arabischen Ländern in Schwung kommt. Durch den Eurovision Song Contest dieser Tage ist die politische Situation da häufig Thema in den Medien hier. Wir werden den Wettbewerb mit Freunden zusammen bei uns anschauen.

Zeit für Hobbys habe ich leider nicht. Was ich gerne mal machen würde, ist Modellbau mit meinen Söhnen. Eine kleine Stadt zu errichten, durch die ein Zug fährt, dazu hätte ich große Lust. Dafür braucht man aber viel Geduld und Zeit. Ich würde auch gern mehr Tennis und Golf spielen. Meine Frau und ich, wir haben uns vorgenommen, in zehn Jahren mit der Arbeit zwar nicht ganz aufzuhören, sie aber erheblich zu reduzieren. Bis dahin werde ich wohl weitermachen wie bisher.

Aufgezeichnet von Canan Topçu

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