Berlin

Attentat am 9. November

Es ist der Abend des 9. November 1969. Rund 250 Menschen haben sich im großen Veranstaltungssaal des Jüdischen Gemeindehauses in der Fasanenstraße in Berlin-Charlottenburg versammelt, um der Opfer der Pogromnacht zu gedenken. Unter ihnen sind auch der damalige Gemeindevorsitzende Heinz Galinski und seine Frau Ruth. Die Zeremonie geht ohne besondere Vorkommnisse zu Ende.

Garderobe Als die Putzfrau am nächsten Morgen ein merkwürdiges Ticken aus der Richtung der Garderobe hört und daraufhin die Polizei alarmiert, wird schnell klar: Die Besucher des Vorabends sind nur knapp einem Massaker entgangen. In einem an der Garderobe deponierten weißen Trenchcoat war eine Bombe versteckt. Sie hatte nicht gezündet.

Wie die polizeilichen Ermittlungen später ergeben sollten, war der Zünder verrostet gewesen. Wenn nicht, wären vermutlich alle Menschen im Gemeindehaus ermordet worden. Die Bombe trug eine gewaltige Menge Sprengstoff in sich.

BOMBENLEGER Eine kleine linksextremistische Stadtguerilla-Gruppe namens »Tupamaros West-Berlin« bekannte sich zu dem Attentatsversuch. Die linken Terroristen um ihren Anführer Dieter Kunzelmann und den Bombenleger Albert Fichter wollten am 31. Jahrestag der nationalsozialistischen Novemberpogrome Juden in Berlin töten, um sich mit dem »antiimperialistischen Kampf« der Palästinenser gegen den Staat Israel zu solidarisieren.

Die linken Terroristen ließen sich in einem Camp der Fatah an der Waffe ausbilden.

In dem Bekennerschreiben der Terroristen ist von den »faschistischen Gräueltaten Israels gegen die palästinensischen Araber« die Rede und von der »Kristallnacht«, die »heute täglich von den Zionisten in den besetzten Gebieten, in den Flüchtlingslagern und in den israelischen Gefängnissen wiederholt« werde. Zur Vorbereitung waren die Linksterroristen eigens aus Deutschland in den Libanon und nach Jordanien gereist, um sich in einem Camp der Fatah an der Waffe ausbilden zu lassen.

RECHERCHE Der gescheiterte Anschlag ging als erster antisemitischer Terrorakt nach 1945 in die bundesdeutsche Geschichte ein. Dennoch ist das Ereignis von vor nunmehr 50 Jahren, das die jüdische Gemeinde im damaligen West-Berlin und der gesamten Bundesrepublik aufs Tiefste erschütterte, heute weitgehend vergessen.

Die Autorin Regina Leßner hat über das Attentat und seine politischen Hintergründe ein Radiofeature produziert. Dafür sprach die Hamburgerin mit dem Bombenleger Albert Fichter und seinem Bruder Tilman, ebenso wie mit Ruth Galinski, dem Kriminaloberkommissar Wolfgang Kotsch, dem Historiker Wolfgang Kraushaar und dem Politologen Gerd Langguth.

Der Titel des Features, das zum ersten Mal 2008 im NDR und im SWR gesendet wurde, lautet Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Am Montagabend war Leßner in das Jüdische Gemeindehaus in der Fasanenstraße gekommen, um ihren Radiobeitrag dem interessierten Publikum zu präsentieren. »Mein Feature an diesem Originalschauplatz vorspielen zu können, ist etwas ganz Besonderes für mich«, sagte Leßner. »Genau hier an diesem Ort wollten die Terroristen die Bombe hochgehen lassen und Menschen ermorden.«

EXIL Für die 65-jährige Autorin, die seit vielen Jahren für Radioproduktionen und als Regisseurin arbeitet, waren die Recherchen für das Feature über das fehlgeschlagene Attentat auf das Berliner Jüdische Gemeindehaus besonders schwierig, wie sie erzählte. »Insbesondere das Gespräch mit dem Bombenleger Albert Fichter war eine echte Herausforderung«, sagte Leßner.

Die Autorin hatte das ehemalige Mitglied der Kommune I, Albert Fichter, in seinem Exil in Schweden getroffen. Dorthin war er 1970 geflüchtet. »Ich konnte dem Mann einfach nicht abkaufen, dass er seine Taten von damals bereut«, schilderte Leßner ihren Eindruck.

In dem Feature kommt Fichter mit der Aussage zu Wort, dass er sich bei der jüdischen Gemeinde für diese »üble Tat« entschuldigen wolle. Wenn er könnte, würde er es ungeschehen machen. »Ich bin kein Antisemit«, betonte Fichter in dem Gespräch mit der Autorin. Er sei von seinem Anführer Kunzelmann zu der Tat verführt worden. »Dem Zionismus stehe ich allerdings bis heute fremd gegenüber«, hört man ihn weiter sagen.

ACHTUNDSECHZIGER Für Leßner sind solche Statements Ausdruck des linken Antisemitismus, der auch in der 68er-Bewegung unterschwellig vorhanden war. »Linksterroristische Gruppierungen wie die Tupamaros West-Berlin und später die RAF sind auf dem ideologischen Boden der 68er-Bewegung gewachsen«, erläuterte Leßner. Die antiimperialistische Rhetorik der linken Studenten mit ihrer »revolutionären Abneigung« gegenüber den USA und deren »Weltimperialismus« habe ein Einfallstor für den antizionistisch eingefärbten Antisemitismus der Linksextremisten geliefert.

»Der Antizionismus der Linken, den man ja auch heute noch mancherorts antreffen kann, hat die Grundlage für eine solch abscheuliche Tat wie die am 9. November 1969 in Berlin geliefert«, schlussfolgerte Leßner.

Der Bombenleger Albert Fichter, der die Tat gestanden hat, wurde nie dafür belangt. Die Geschehnisse gelten inzwischen als verjährt. Doch obwohl die politischen Hintergründe bekannt sind, bleiben offene Fragen. »Die Frage, wieso die Bombe nicht gezündet hatte, konnte auch ich nicht beantworten«, sagte Autorin Leßner. Aus den Akten ist bekannt, dass der Sprengsatz von Peter Urbach, einem Agenten des Berliner Verfassungsschutzes, in den Umkreis der Terrorzelle gelangt war. Hatte dieser absichtlich verrostete Zünder verwendet?

Die Bombe trug eine gewaltige Menge Sprengstoff, doch der Zünder war verrostet.

Spekulationen Bombenleger Fichter behauptete im Gespräch mit der Feature-Autorin Leßner, gewusst zu haben, dass der Sprengsatz nicht explosionsfähig gewesen war. Also alles nur eine Provokation des Verfassungsschutzes, um die Linken zu diskreditieren? »Ich möchte mich an etwaigen Spekulationen zur Rolle des V-Mannes hinter dem Anschlagsversuch genauso wenig wie an Verschwörungstheorien beteiligen«, sagte Leßner.

Fakt sei, dass das erste antisemitisch ausgerichtete Attentat in der Bundesrepublik nach dem Untergang des NS-Regimes von einer linken Terrorgruppe ausgegangen sei. »Die Sache mit der Bombe im Jüdischen Gemeindehaus sollte eine propalästinensische Aktion sein.« Zitat Albert Fichter.

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