Herr Yilmaz, Sie arbeiten in Duisburg-Obermarxloh mit männlichen Jugendlichen aus Einwandererfamilien. Worum geht es da?
Unsere Jugendlichen haben Fragen, bezogen auf ihre soziale Rolle: Was bedeutet Männlichkeit? Welche Erwartungen stellt die Gesellschaft an mich als Mann? Und bin ich mit diesen Erwartungen einverstanden? Es sind Jungen und heranwachsende Männer mit Migrationsgeschichte dabei, die sich in Stereotypen nicht wiederfinden. Und andere, die eben mit diesen Bildern, etwa mit dem von körperlicher Stärke, darauf antworten. Bei unserer Auseinandersetzung dekonstruieren wir diese Bilder und beschäftigen uns mit Sexismus und Antisemitismus. In der Vorstellung vieler Jugendlicher sind sie mit Männlichkeit verknüpft.
Wie finden Sie Zugang zu diesen Themen?
Das geschieht über die Biografien der Jugendlichen. Bei unserer Arbeit mit den Begriffen der Ehre und Männlichkeit stellen wir fest, dass die Familiengeschichte eine zentrale Rolle spielt. Das Bild von Männlichkeit hat sich über die Generationen hinweg verändert. Unsere Jugendlichen erleben, dass die Ansprüche an sie gestiegen sind, und sie finden im Schulalltag wenig Raum, sich mit der Migrationsgeschichte ihrer Eltern und Großeltern und dem innerfamiliären Generationskonflikt auseinanderzusetzen. Wir gehen mit ihren Biografien wertschätzend um, hinterfragen sie aber auch kritisch.
Bei Ihrem Programm »Junge Muslime in Auschwitz« besuchen Sie seit 2012 das ehemalige deutsche Vernichtungslager und entwickeln Theaterstücke über die Erfahrungen. Wie läuft die Vorbereitung?
Wir arbeiten zeitintensiv noch einmal mit den Biografien unserer Teilnehmer. Die Familiengeschichte wird anhand von Rollenspielen tiefgehend rekonstruiert. So evozieren wir weitere Fragen zur Geschlechterrolle und kulturellen Identität. Außerdem setzen wir uns mit den Opferbiografien auseinander. Sehr viele Duisburger und Duisburgerinnen sind nach Auschwitz deportiert worden. Damit veranschaulichen wir unseren Jugendlichen, dass das Vernichtungslager außerhalb von Deutschland den lokalen Bezug hat. Dadurch entwickeln sie einen persönlichen Zugang.
Wie erleben Ihre Jugendlichen den Besuch in Auschwitz?
Sehr unterschiedlich. Manche spüren Wut und Trauer, andere bauen emotionale Schutzmechanismen auf. Auschwitz ist ein Ort des Terrors. Und ein Friedhof. Uns ist es deswegen wichtig, dass der Besuch freiwillig stattfindet. Einige Jugendliche sagen uns von vornherein, sie wollen sich diesem Ort nicht aussetzen. Das respektieren wir.
Die Idee für den Besuch kam aber von einem Jugendlichen.
Wir hatten bereits darüber nachgedacht, wie Erinnerungskultur für junge Menschen mit Migrationsgeschichte aussehen könnte. Als uns ein Jugendlicher erzählte, dass sein Lehrer sein Interesse an der deutschen Geschichte abblockte – die Schoa habe mit ihm als Türkeistämmigen nichts zu tun –, entstand die Idee zu »Junge Muslime in Auschwitz«. Auf die Schüler und Schülerinnen in Duisburg kommen leider weiterhin nur sehr wenige Lehrkräfte mit Einwanderungsgeschichte. Für unsere muslimischen Jugendlichen ist der Bezug zum Antisemitismus meist der Nahostkonflikt, der im Geschichtsunterricht kaum behandelt wird. Auch den thematisieren wir im Anschluss und sprechen über jüdisches Leben in der Gegenwart.
In Auschwitz werden die Jugendlichen mit der deutschen Täterschuld konfrontiert. Wie gehen sie damit um?
Sie erleben, was es bedeutet, »deutsch« zu sein, aus der Schuldperspektive auf die Schoa zu blicken. Das ist ein extrem verunsichernder Moment für unsere Jugendlichen, weil sie die deutsche Täterperspektive in ihren Familienbiografien nicht kennen und in Deutschland nach wie vor als Migranten markiert werden. Wenn sie in Auschwitz mit Herkunftsdeutschen in Kontakt kommen, verteidigen unsere Jugendlichen das Aufrechterhalten von Erinnerungskultur. Wir hatten heftige Diskussionen, weil viele Herkunftsdeutsche meinen, Deutschland trage keine Verantwortung mehr.
Ein weiterer Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist die Beschäftigung mit antisemitischen Videos, die in sozialen Netzwerken verbreitet werden. Was machen Sie da?
Diese Videos, die kursieren, sind neurechte oder islamistische Propaganda gegen jüdisches Leben. Wir analysieren diese Verschwörungsmythen und entwickeln eigene Clips, die wir verbreiten, um auch digital mit Gegennarrativen Aufklärung zu betreiben. Leider wird Antisemitismus aktuell vor allem Personen mit Migrationsgeschichte zugeschrieben. Es müssen jedoch auch Maßnahmen gegen den strukturellen Antisemitismus in der herkunftsdeutschen Gesellschaft stattfinden. Das erleben wir nicht in dem notwendigen Ausmaß.
Ihr Programm, für das Sie im vergangenen Jahr mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurden, besitzt Modellprojektcharakter. Spüren Sie ein Interesse, es in anderen Städten zu adaptieren?
Ich freue mich sehr über das Bundesverdienstkreuz und die anderen Auszeichnungen, keine Frage. Diese Form der Anerkennung motiviert mich ungemein. Aber bis heute werden wir in unserer Struktur nicht finanziell gefördert. Erst dann könnten unsere Programme nachhaltig wirken und in andere Städte expandieren. Die Politik in Nordrhein-Westfalen war bisher nicht gewillt, uns eine langfristige Perspektive zu geben.
Mit dem Pädagogen sprach Konstantin Alexiou.
Burak Yilmaz, Jahrgang 1987, arbeitet beim Zentrum für Erinnerungskultur in Duisburg als pädagogischer Guide. 2012 initiierte er das Projekt »Junge Muslime in Auschwitz«. Zudem ist er in Duisburg in dem Verein »Jungs« tätig, um Antisemitismus zu bekämpfen. Yilmaz erhielt das Bundesverdienstkreuz und wurde jüngst auch von der Bundesregierung als Botschafter für Demokratie und Toleranz 2019 ausgezeichnet.