Politikwissenschaft

Langzeiteffekt der Nazipropaganda

Matthias Küntzel untersucht, wie der Antisemitismus in den Nahen Osten kam

von Michael Kreutz  24.08.2020 18:20 Uhr

Kooperierte mit den Nazis: Mufti al-Husseini Foto: Verfügbar für Kunden mit Rechnungsadresse in Deutschland. ! Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.

Matthias Küntzel untersucht, wie der Antisemitismus in den Nahen Osten kam

von Michael Kreutz  24.08.2020 18:20 Uhr

Dass der muslimische Antisemitismus im Wesentlichen ein Import aus Europa ist, darüber herrscht in der Forschung seit Langem Einigkeit. In jüngerer Zeit hat jedoch eine Akzentverschiebung stattgefunden, indem Nazideutschland als Quelle des antisemitischen Giftes stärker in den Mittelpunkt rückte.

Aber erst, seit der amerikanische Historiker Jeffrey Herf die Transkripte erschloss, die der US-Botschafter in Ägypten, Alexander C. Kirk, ab 1941 von den Radiosendungen der Nazis hatte anfertigen lassen, können wir das Ausmaß dieser Hasspropaganda erahnen, die möglicherweise bis heute fortwirkt.

Islam Daran knüpft auch der Politikwissenschaftler und Historiker Matthias Küntzel an, der in der arabischsprachigen Propaganda der Nazis die tiefere Ursache für den heutigen muslimischen Antisemitismus ausmacht. Küntzel verweist hierbei auch auf die Propagandaschrift Islam und Judentum von 1937, deren Verbreitung belege, dass der islamische Antisemitismus nicht erst eine Reaktion auf die Unabhängigkeit des jüdischen Staates war. Der Unabhängigkeitskrieg, den er 1948 gegen angreifende arabische Nachbarstaaten führen musste, war demnach nichts anderes als der Langzeiteffekt jahrelanger Nazipropaganda.

Ob Küntzel mit diesen Thesen »Neuland« betritt, wie er glaubt, sei einmal dahingestellt. Zwar geht er auf vorhandene Literatur zum Thema nur flüchtig ein und ignoriert etwa Robert Wistrichs Buch Muslimischer Antisemitismus, in dem man schon in den 80er-Jahren lesen konnte, dass radikale muslimische Bewegungen faschistische Denkmuster übernahmen, seit sich das NS-Regime Ende 1937 entschlossen gezeigt hatte, einen jüdischen Staat in Palästina zu verhindern. Ebenso wenig geht er auf arabische Quellen mit Ausnahme einiger Texte ein, die er sich nach eigenen Angaben hat übersetzen lassen. Wertvoll ist sein Buch aber vor allem dort, wo er mit bislang unpublizierten Quellen britischer und deutscher Archive aufwarten kann.

Hass Küntzel zeichnet nach, wie »Radio Zeesen« und weitere NS-Sender in Italien und Griechenland eine Flut antisemitischer Propaganda über den Nahen Osten ergossen. Dafür, dass diese Propaganda ausgesprochen wirkungsvoll war, führt er ein starkes Argument ins Feld: In muslimischen Zentren nämlich, die Radio Zeesen nicht erreichte, war der Hass auf Juden offenbar geringer, so in Bosnien-Herzegowina oder in Asien. Er positioniert sich sowohl gegen die These, der Antisemitismus im Nahen Osten sei von Missionaren und Kolonialmächten importiert worden, als auch dagegen, dass der arabisch-muslimische Antisemitismus vor allem eine Folge der israelischen Staatsgründung sei.

Etwas optimistisch gerät seine Annahme, wäre der mit Nazi-Deutschland kooperierende Mufti Amin al-Husseini von der britischen Mandatsmacht deportiert worden, sähe der Nahe Osten heute vielleicht anders aus. Schon auf dem Panislamischen Kongress in Jerusalem 1931 gab es zwar auch moderate Muslimführer, die vielleicht ihren Frieden mit dem jüdischen Staat gemacht hätten, darunter Shawkat Ali aus Indien. Allerdings waren die Gegner des Mandats und damit der Zionisten in der Mehrheit. Der Mufti war nur einer von ihnen.

Gebiete Heutige Islamisten glauben ohnehin, dass die Hoheit über Gebiete, die einmal unter islamischer Herrschaft standen, von Nichtmuslimen nur usurpiert würde. Zu diesen Gebieten gehören neben Palästina auch Andalusien und Südosteuropa. Und auch, wenn Islam und Judentum keine »Konfrontationskulturen« (Amos Funkenstein) waren und es Juden und anderen Minderheiten unter muslimischer Herrschaft besser ergangen sein mochte als unter christlicher, so gibt es in muslimischen Quellen nicht wenige Anknüpfungspunkte für Judenfeindlichkeit.

Wie Zeev Maghen (2004) gezeigt hat, ist das Judenbild in der Prophetenbiografie (sira) überaus anschlussfähig an antisemitische Denkmuster. In der schiitischen Eschatologie wiederum finden sich Anzeichen dafür, dass der Antichrist (dajjal) jüdischer Herkunft sei. Ebenso finden wir schon bei Ibn Hazm (12. Jh.) und Ibn Taymiyya (13. Jh.) die Behauptung, ein Jude namens Abdallah Ibn Saba habe die Schia (oder andere Heterodoxien) in die Welt gesetzt, um die Muslime zu spalten und Bürgerkrieg unter ihnen zu entfachen.

These Der Kernthese von Küntzel tut das freilich keinen Abbruch. Auf fundierte und angenehm zu lesende Weise macht sein Buch deutlich, wie erfolgreich die NS-Propaganda im Nahen Osten war, und diese Erkenntnis mag für Linke und Rechte gleichermaßen ein Ärgernis sein, lenkt sie doch den Blick weg von Israel und dem Islam hin zur deutschen Geschichte, die auch im Nahen Osten noch lange Schatten wirft.

Matthias Küntzel: »Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand«. Hentrich und Hentrich, Berlin 2020, 272 S.,19,90 €

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