Film

Große Emotionen

Madame Rosa (Sophia Loren) nimmt den Straßenjungen Momo (Ibrahima Gueye) bei sich auf – und freundet sich unerwartet mit ihm an. Foto: netflix / REGINE DE LAZZARIS AKA GRETA

Die Kino-Legende Sophia Loren hat ihren ersten Spielfilm seit zehn Jahren gedreht. Auch wenn die heutigen Kinobesucher wohl Schwierigkeiten haben werden, sich an das italienische Kino vor Sophia Loren zu erinnern, ist die Diva erst 86 Jahre alt.

Der Film Du hast das Leben vor dir feierte am vergangenen Freitag auf dem Online-Strea­mingdienst Netflix Premiere, weswegen die Zuschauer die wunderbare Gelegenheit haben, Sophia Loren im italienischen Original mit Untertiteln zu erleben. Regie führte ihr Sohn Edoardo Ponti.

bestseller Der Film basiert auf dem 1975 erschienenen französischen Bestseller La vie devant soi (Du hast das Leben noch vor dir). Der Roman erzählt die Geschichte des kleinen arabischen Jungen Mohammed, genannt Momo.

Der Waisenjunge wächst bei Madame Rosa im Pariser Stadtteil Belleville auf. Madame Rosa hat Auschwitz überlebt. Jahrzehntelang hat sie angeschafft. Nun verdient sie sich ihren Lebensunterhalt damit, dass sie sich gegen Bezahlung um die kleinen Kinder ihrer Kolleginnen kümmert.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Die ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen dem arabischen Jungen Momo und der alten Madame Rosa, die nur einander haben, begeisterte in den 70er-Jahren die Leser sofort. Und brachte dem Autor Emile Ajar den altehrwürdigen Prix Goncourt ein, den begehrtesten Literaturpreis Frankreichs.

literaturskandal Rund fünf Jahre später wurde Frankreich von einem Literaturskandal erschüttert, als bekannt wurde, dass sich hinter dem Pseudonym »Emile Ajar« der inzwischen verstorbene jüdische Schriftsteller Romain Gary verborgen hatte. Somit ist Gary der einzige Autor der Geschichte, der den an einen Schriftsteller prinzipiell nur ein einziges Mal zu vergebenden Prix Goncourt gleich zweimal erhielt.

Gary hatte in den Reihen von Charles de Gaulles Streitkräften des Freien Frankreich gekämpft. Nach dem Krieg machte er sich schnell als Romancier, Drehbuchautor und Diplomat einen Namen. Warum versteckte sich der erfolgreiche Schriftsteller hinter einem Pseudonym?

Nun, weil Romain Gary einfach wollte, dass seine Romane für sich stehen und ohne Ansehen des Autors gelesen und beurteilt werden sollten. In dieser Strategie lag zwar ein unleugbares finanzielles Risiko, doch das Geld war Gary gleichgültig. Ihm ging es allein um die vorurteilsfreie Anerkennung seiner Bücher.

roman Zwei Jahre nach Erscheinen des Romans von »Emile Ajar« konnten sich die Franzosen die Geschichte von Momo und Madame Rosa im Kino ansehen. Die alte, gehbehinderte, übergewichtige und nach Atem ringende Frau, die sich in Moshé Mizrahis Film Madame Rosa mit der Einkaufstasche in der Hand die Stufen ihres armseligen Mietshauses in Belleville emporkämpft, sieht der gefeierten Schauspielerin Simone Signoret zwar zum Verwechseln ähnlich, doch besteht überhaupt kein Zweifel: Diese alte Frau ist tatsächlich Madame Rosa.

In einer Rolle wie dieser war Sophia Loren bisher noch nie auf der Leinwand zu sehen.

Das Meisterwerk des in Alexandria geborenen und im Kibbuz aufgewachsenen israelischen Regisseurs Moshé Mizrahi wurde 1978 für den Oscar nominiert. Ebenfalls als bester fremdsprachiger Film war im selben Jahr Ettore Scolas antifaschistisches Drama Ein besonderer Tag nominiert, mit Marcello Mastroianni und Sophia Loren in den Hauptrollen.

Moshé Mizrahis Madame Rosa gewann. Darüber hinaus wurde Simone Signoret für ihre Verkörperung der Madame Rosa mit dem César ausgezeichnet. Scolas Meisterwerk erhielt den César als bester fremdsprachiger Film. Sophia Loren wurde mit dem italienischen Oscar, dem David di Donatello, ausgezeichnet.

stars Nun spielt also Sophia Loren in Du hast das Leben vor dir Romain Garys »Madama Rosa«. Und hier liegt der kleine, doch wesentliche Unterschied: Signoret war in Mizrahis Film von der ersten Einstellung an so sehr »Madame Rosa«, dass der gebannte Zuschauer Star und Kamera völlig vergaß. Doch in Pontis Romanverfilmung vergessen wir keinen Augenblick lang, dass wir es im Fall der alten Madame Rosa unübersehbar und unüberhörbar mit Sophia Loren zu tun haben.

Und da die Loren darum weiß, verwandelt sie diese vordergründige Schwäche in ihre Stärke: Sie zeigt den Zuschauern zwar keine »Madame Rosa«, doch immerhin eine Sophia Loren, wie sie bisher noch nie auf der Leinwand zu sehen war. Auch wenn es ihr ein Leichtes gewesen wäre, den Film rücksichtslos an sich zu reißen und alle anderen Mitwirkenden an die Wand zu spielen, nimmt sich Loren zurück.

Trotz einiger temperamentvoller Ausfälle in ihr Paradefach der so resoluten wie lebensklugen italienischen Mama, agiert die Loren in ihrer Rolle der Madame Rosa meist leise und zurückhaltend, fast schüchtern – und überlässt es dem kleinen Ibrahima Gueye, den Film in der Rolle des Momo zu dominieren: Der Junge radelt und rennt durch die Straßen der italienischen Hafenstadt Bari, streitet und versöhnt sich und wird scheinbar mühelos eins mit seiner Rolle. Dass Gueye als Momo mitunter ein höchst zweifelhaftes Hebräisch sprechen muss, geht auf Pontis Rechnung.

italien Moshé Mizrahi hatte seinen Film in einer Umgebung gedreht, deren mediterrane Prägung ihm vertraut war. Ponti war klug genug, die Handlung des Films kurzerhand von Frankreich nach Italien zu verlegen und einen in jeder Hinsicht sehr italienischen Film zu machen, voller kleiner Momente großer »emozioni«.

Und natürlich sieht Bari nun einmal ungleich schöner aus, als es Belleville ungeachtet seines Namens wohl jemals war. Und natürlich nimmt Ponti Rücksicht darauf, dass seine Mutter stets »bella figura« macht: Lorens »Madama Rosa« geht die Treppen ihres Mietshauses leichtfüßig hinunter. Nie muss sie schwer atmend und fluchend ihre Einkäufe die Treppen hinaufschleppen. Denn dafür hat der liebende Sohn Edoardo gesorgt: Das Haus besitzt einen Aufzug.

»Du hast das Leben vor dir« läuft seit Freitag beim Streamingdienst Netflix.

Bonn

Beethoven-Haus zeigt Ausstellung zu Leonard Bernstein

Die lebenslange Beschäftigung des Ausnahmetalents mit Beethoven wird dokumentiert

 25.04.2024

Potsdam

Chronist der neuen Weiblichkeit

Das Museum Barberini zeigt Modiglianis Menschenbilder in neuem Licht

von Sigrid Hoff  25.04.2024

München

Ausstellung zeigt Münchner Juden im Porträt

Bilder von Franz von Lenbach und anderen sind zu sehen

 25.04.2024

Wien

Spätwerk von Gustav Klimt für 30 Millionen Euro versteigert

Der Künstler malte das »Bildnis Fräulein Lieser« kurz vor seinem Tod

 25.04.2024

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024