Essay

Der US-Präsident, ein Faschist?

Foto: imago images/ZUMA Wire

Als ich am 8. November 2016 mit der Nachricht aufwachte, dass Donald Trump die Wahl gewonnen hatte, beschloss ich, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen.

Dieser Entschluss fiel mir wahrlich nicht leicht. Als Direktorin des Einstein Forums besaß ich ja bereits eine dauerhafte Niederlassungserlaubnis und darüber hinaus zwei Staatsbürgerschaften: die amerikanische (seit meiner Geburt) und die israelische, denn kurz nach den Osloer Friedensabkommen war ich mit meinen Kindern nach Israel gezogen, um als Philosophieprofessorin an die Universität Tel Aviv zu lehren. 

WERTE Als ich 1982 nach Berlin für einen Studienaufenthalt kam, war es noch ungewöhnlich, dass Juden überhaupt nach Deutschland kamen. Inzwischen hat sich das geändert. Deshalb war auch ich 2000 nach Berlin gezogen. Als Jüdin müsste ich dennoch zögern, Deutsche zu werden, sollte man meinen. Doch Donald Trump hat mir deutlich gemacht, dass demokratische Werte in dem Land der ehemaligen Nazis aktuell besser aufrechterhalten werden als in jenem Land, in dem ich aufgewachsen bin.

Wir Juden verwenden den Faschismus-Vorwurf mit großer Vorsicht. Doch in Bezug auf Donald Trump waren die Zeichen schon vor Jahren alarmierend.

Rechthaberisch bin ich nicht. Und nur allzu gern würde ich sagen, dass meine Befürchtungen von 2016 im Rückblick übertrieben waren. Doch die Faschismus-Debatte unter amerikanischen Intellektuellen begann schon damals, während Trumps erstem Wahlkampf.  Auch wir – vor allem die Juden – verwenden den Faschismus-Vorwurf mit großer Vorsicht. Dennoch waren die Zeichen alarmierend. 

UNTERSTÜTZER Da gab es offenen Rassismus von einem Kandidaten, der die amerikanische Nation in »echte« Volksgruppen und in Fremde aufteilte. Damit meinte er keineswegs nur Schwarze und Einwanderer. Trump sandte auch antisemitische Signale aus. Die Proteste dagegen wehrte er anschließend mit der Beteuerung ab, seine Lieblingstochter sei ja eine konvertierte Jüdin.

Da war seine Titulierung der traditionellen Medien als »Volksfeinde«. Da war die Dämonisierung seiner politischen Gegner. Seine Unterstützer skandierten regelmäßig, dass Hillary Clinton in den Knast gehöre. Und da waren auch seine – damals noch eher subtilen – Aufrufe zur Gewalt.

Mit jedem Jahr wurden die Zeichen deutlicher. Bei einem 2017 Forschungsaufenthalt in den Südstaaten konnte ich sie im Detail wahrnehmen.  Doch Trump-Unterstützer, die die Fahnen der Sklavengesellschaft schwenken, wohnten nicht nur in Mississippi. Sie waren auch bei gewaltsamen Protesten in Michigan und Oregon präsent – und auch, wie die Welt nun gesehen hat, in der Hauptstadt Washington.  Man musste nur amerikanische Nachrichten im Original anschauen oder lesen, um sich dessen zu vergewissern. 

MOB Spätestens im August 2017 konnte jeder im Fernsehen sehen, wie ein schwerbewaffneter Mob im Fackelzug nicht nur die Flagge der Konföderierten Staaten, sondern auch Hakenkreuzfahnen schwenkten.  Einige der Demonstranten trugen T-Shirts mit Hitlerzitaten, andere skandierten antijüdische Slogans. Damals, in Charlottesville, wurde »nur« eine Frau von dem Mob getötet. Trumps Reaktion: Es gebe ja feine Leute auf beiden Seiten.

Und was kam danach? 2018 wurden elf Juden in einer Synagoge in Pittsburgh ermordet, der tödlichste Angriff auf Juden in der amerikanischen Geschichte. Der Terrorist wählte dieses Ziel bewusst. Die Synagoge »Baum des Lebens« wurde 1864 von jüdischen Einwandern gegründet. Seitdem hat sie andere Einwanderer unterstützt, auch nicht-jüdische.

Das Prinzip von Trump: Was letzte Woche absolut schockierend war, wird nächste Woche noch einmal übertroffen.

Angesichts der Tatsache, dass Trumps Hetze gegen Immigranten zu dieser Gewalt beigetragen hatte, plädierte sowohl der Bürgermeister der Stadt wie auch viele Angehörige der Opfer dagegen, dass Trump nach Pittsburgh kommen solle. Doch diese Meinung wurde ignoriert. 

Kurz danach wurden 14 Briefbomben just an jene Demokraten geschickt, die Trump immer wieder in seinen Reden erwähnte: Barack Obama, Hillary Clinton, Joe Biden, Kamala Harris und George Soros. Der Absender wurde schnell in Florida gefunden – er hauste in einem mit Trump-Aufkleber verzierten Wohnwagen. Zum Glück waren seine Kenntnisse im Bombenbau rudimentär; keiner der Sprengsätze explodierte.

ZEICHEN Doch wie soll man all jene Ereignisse aufzählen, die beweisen, dass Donald Trump nicht nur ein vulgärer, ungebildeter, narzisstischer Wirrkopf ist, sondern auch eine Gefahr für die demokratische Ordnung? Amerikanische Beobachter haben das inzwischen aufgegeben. Seit anderthalb Jahren beginnen Berichte in Qualitätszeitungen wie der »New York Times«, der »Washington Post«, dem »New Yorker« und anderen mit dem Zugeständnis, dass Trumps Angriffe auf demokratische Normen so schnell kommen, dass sie kaum mehr gezählt werden können. 

Was letzte Woche absolut schockierend war, wird nächste Woche noch übertroffen. Und dennoch wurde mir in zahllosen deutsche Podiumsdiskussionen versichert – auch noch kurz vor den letzten Wahlen am 3. November 2020 – es werde alles nur halb so schlimm ausgehen.

Freunde aus Entwicklungsländern haben die Zeichen an der Wand schneller gelesen. Seit mehreren Jahren haben mir Freunde aus Senegal, Ägypten oder Indien voller Trauer gesagt, leider verstünden sie nun Amerika, weil sie eigene Erfahrungen mit Diktaturen hätten.

Handelt Trump faschistisch? Wer noch Zweifel hatte, musste nur die TV-Debatte zwischen Biden und ihm verfolgen.

Deutsche Beobachter wollten dagegen die Lage nicht so recht wahrhaben. Im August 2020 gab es Straßenkämpfe in Portland, Oregon, die von Trumps Gefolgschaft angestiftet worden waren. Daraufhin schickte der US-Präsident - gegen den Willen der Regierung vor Ort – Truppen nach Portland, um – wie er behauptete – Bundeseigentum zu schützen. Dieses Eigentum war ihm beim Angriff auf das US-Kapitol aber herzlich egal war. In Portland ging es auf den ersten Blick um ein Gerichtsgebäude. Doch in Wahrheit ginge es um Trumps Versuch, die kommenden Wahlen mit einem Ruf nach »Law and Order« gegen überwiegend friedliche »Black Lives Matter«-Demonstranten zu gewinnen. Das hatte 1968 schon Richard Nixon geschafft. 

PORTLAND Eine deutsche Journalistin bat mich zu einem Interview zu den Vorgängen Portland. »Glauben Sie wirklich, die USA könnte zu einem autoritären Staat werden?«, fragte sie mich. Ich musste lachen. »Autoritär?«, antwortete ich.  »Wir haben schon längst eine Faschismus-Debatte, und wenn die sehr vorsichtige, zentristische Politikerin Nancy Pelosi auf Twitter ruft: ›Trumps Sturmtruppen müssen weg!‹, dann ist die Debatte eigentlich entschieden«. 

Wer noch Zweifel hatte, musste nur die TV-Debatte zwischen Biden und Trump verfolgen. Da wurde Trump gefragt, ob er bereit sei, paramilitärischen Gruppen wie den »Proud Boys«, die eine große Rolle in Portland spielten, die klare Botschaft zu senden: Gewalt hat keinen Platz in demokratischen Wahlen. Trumps Antwort war ominös: »Proud Boys, bleibt ruhig, und steht bereit.«

Seitdem war alles nur eine Frage der Zeit. Am 6. Januar waren alle juristische Versuche, das Wahlergebnis anzufechten, endgültig gescheitert. So verwunderte es nicht, dass Trump seine Anhänger per Twitter aufrief, am 6. Januar nach Washington zu kommen. »Es wird wild werden!«, versprach er.

Da ich inzwischen seit nun mehr als zwei Jahrzehnten in Berlin lebe, weiß ich, wie die meisten Deutschen reagieren, wenn der Faschismus-Begriff auf andere Länder angewandt wird. Ihre beinahe allergische Ablehnung hat natürlich einen Grund. Die Nazis selbst haben oft auf Verbrechen anderer gezeigt, um die eigenen kleinzureden. Hitler benutzte Amerikas Raubmord an seinen indigenen Völkern, um seine Suche nach »Lebensraum im Osten« zu rechtfertigen. Und er benutzte den Massenmord an den Armeniern, um seinen Judenmord zu exkulpieren.

FASCHISMUS Spätestens seit Spanien und Italien wissen wir, dass Faschismus nicht nur ein deutsches Problem ist. Dennoch können sich alle auf eines einigen: Nirgendwo war der Faschismus grausamer und tödlicher als in Nazi-Deutschland. Doch die Nazis begannen nicht mit Auschwitz. Der anständige Wunsch, Nazi-Verbrechen nicht zu entschuldigen, sollte Deutsche nicht daran hindern, die Zeichen eines aufkeimenden Faschismus auch anderswo zu erkennen.

Trumps Paramilitärs haben angekündigt, dass der 6. Januar nicht ihr letztes Gefecht gewesen sei.

Und nun zu der Frage, ob Trump, trotz allem, denn nicht gut für die Juden war. Etwa 26 Prozent der amerikanischen Juden haben ihn 2020 gewählt, ob nun – wie auch nicht-jüdische Republikaner – wegen der Steuersenkungen oder wegen seiner Nibelungentreue zu Israels Premier Benjamin Netanjahu. Wer glaubt, dass Trumps Politik gegenüber Israel von den amerikanischen Juden goutiert wird, sollte aber besser mal das Gejammer des Präsidenten nachlesen. Während des Wahlkampfs beklagte er, nur Christen hätten die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem begrüßt. Die Juden seien ihm dafür gar nicht dankbar gewesen. 

Dies könnte die einzige Wahrheit gewesen sein, die Trump in diesem Wahlkampf geäußert hat. In der Tat sind die mächtigsten Unterstützer dieser Politik die gut organisierte 30 Millionen christliche Zionisten, die gar nicht verschweigen, dass sie den Endzeit-Krieg, der in den apokalyptischen Schriften des Neuen Testaments prophezeit wird, provozieren wollen.

UNTERSTÜTZER Jene Juden, die Trump unterstützen, sind mehrheitlich Ultraorthodoxe, und einige - wenn auch wohl sehr wenige - waren bei dem Angriff auf das Kapitol in Aktion zu sehen. Sie stammten aus Brooklyn, wo sie stark gegen die Corona-Politik agitiert hatten, welche größere Zusammenkünfte in Synagogen, Kirchen und Moscheen verbietet.

Dabei sind die Haredi-Gesellschaften New Yorks selbst schwer von der Pandemie getroffen. Man kann sich nur fragen, ob die Demonstranten, die eine Kippa trugen, überhaupt merkten, mit wem sie da zusammenstanden. Dabei war auch ein Mann, der einen Pullover mit der Anschrift »Camp Auschwitz« trug. Darunter war ein Schädel abgebildet und eine schlechte Übersetzung von »Arbeit macht frei«. Wussten diese Haredim, was die Parole »6MNE« bedeutet?

Ich musste sie selbst recherchieren. Sie steht für »6 Millionen sind nicht genug«. Diese Parole wird gern von den »Proud Boys« benutzt. Deren Logo enthält auch den amerikanischen Adler und die Fahne der Konföderierten. Am Wochenende berichtete mir ein Freund, dass die Parole nun an viele Wände in seiner Nachbarschaft in Washington geschmiert worden sei. Und die Paramilitärs haben angekündigt, dass der 6. Januar nicht ihr letztes Gefecht gewesen sei. Einige wollen bis zum 20. Januar in Washington bleiben, um dort Bidens Amtseintritt zu verhindern. Diesmal wird ein großes Polizeiaufgebot anwesend sein. Warum das nicht schon letzte Woche geschah, wird derzeit noch untersucht, aber eins ist schon sicher: Ein Planungsfehler war es nicht.

US-GESCHICHTE Die Frage, warum 74 Millionen Amerikaner einen Faschisten im Amt bestätigen wollten, wird uns noch lange beschäftigen. Ich kann es selbst nur schwer verstehen, und dennoch will ich einige Gründe nennen. Einer ist die Abwesenheit  staatlich geforderter Massenmedien, welche journalistische Mindestnormen einhalten. Stattdessen haben die Amerikaner Fox News und Schlimmeres. Ein weiterer Grund ist der Mangel an sozialen Rechte und einer Grundversorgung - selbst in einer Pandemie gibt es nicht einmal den Begriff der Krankschreibung. 

Am wichtigsten ist wohl die Tatsache, dass Amerika seine rassistische Geschichte nie aufgearbeitet hat. Diese verdrängte Geschichte vergiftet die Gegenwart. Wer den Übergang von Obama zu Trump, oder den Mord an unbewaffneten schwarzen Bürgern, verstehen will, der muss sich mit der unaufgearbeiteten Geschichte dieser Nation beschäftigen.

Amerikaner, die ihre Nachrichten nicht von Fox beziehen, haben schon lange gewusst, dass ihre Demokratie gefährdet war. Deshalb waren die Bilder aus dem Kapitol zwar schockierend, aber nicht unerwartet. Unerwartet war dagegen ein Ereignis, das am 6. Januar fast untergegangen wäre: In dem eigentlich mehrheitlich republikanischen Südstaat Georgia gewannen zwei Demokraten die Senatswahlen. Dies wird internationale Folgen haben, denn die Demokraten haben nun im Senat die Demokraten eine hauchdünne Mehrheit.

Jon Ossoff und Raphael Warnock haben zusammen gekämpft - und die alte Solidarität zwischen Juden und Schwarzen immer wieder beschworen.

Im November konnte ich Bidens Wahlsieg nicht feiern. Zu ungewiss war da noch die Frage, ob der republikanischer Senatsführer Mitch McConnell Bidens Neustart nicht doch noch verhindern würde, so wie er in der Vergangenheit fast alle Initiativen Obamas blockiert hatte. Damit wären alle Hoffnungen auf Fortschritt – ob in der Klimapolitik, in den Verhandlungen mit Iran, oder der Bekämpfung des grassierenden Rassismus – verloren gegangen. 

DEMOKRATISIERUNG Für jeden Menschen, der wie ich aus Georgia stammt, erschien die Vorstellung ein jüdischer oder ein schwarzer Kandidat, oder gar beide gleichzeitig, dort Senatswahlen gewinnen könnten, wie ein Hirngespinst. Dennoch haben Jon Ossoff und Raphael Warnock zusammen gekämpft und die alte Solidarität zwischen Juden und Schwarzen in der Zeit der Bürgerrechtsbewegung, die meine eigene Kindheit geprägt hätte, immer wieder beschworen. Ein Fremder schickte mir daraufhin eine E-Mail mit der Betreffzeile: Nes Gadol Haya Po (Sham). 

So habe ich in den letzten Tagen immer wieder Leonard Cohens Lied »Democracy is coming to the USA« angehört. Nach dem Berliner Mauerfall begann der große jüdischer Sänger und Dichter an diesem Song zu arbeiten. Sein Gedanke damals war: Alle reden von der aufkommenden Demokratisierung im Osten, aber wie wäre es, wenn eine vollkommene Demokratie in Amerika entstünde? Immerhin, jetzt haben wir wieder eine Chance dafür.

Die Autorin ist Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Vor Kurzem erschien ihr Buch »Von den Deutschen lernen« bei Hanser-Berlin.

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