Meinung

Sido, Xavier, Massiv und der Aluhut

Publizist und Rapper: Ben Salomo Foto: imago

Einst mochte ich Sido, Xavier Naidoo und die vielen anderen meiner alten Bekannten und ehemaligen Weggefährten aus der deutschen Rapszene. Doch irgendwann musste ich feststellen, dass sich ein hochansteckendes Virus in dieser Szene ausbreitete: Antisemitismus, zeitgemäß verpackt in Verschwörungsmythen.

Es begann kurz nach dem 11. September. Alle diskutierten damals darüber, ob die Anschläge auf die Twin Towers tatsächlich vom Terrornetzwerk Al-Qaida organisiert wurden, oder ob das Ganze ein von den USA selbst inszenierter »Inside Job« gewesen ist. Einige Zeit später kursierten mehrere Gerüchte in der Rapszene, zum Beispiel, dass 4000 Israelis am Tag der Anschläge nicht zur Arbeit erschienen seien, weil sie angeblich vorgewarnt wurden.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Der Rapper Massiv teilte irgendwann über seine sozialen Netzwerke einen Beitrag der Seite »Islam Fakten«, reproduzierte darin dieses Gerücht mit dem Kommentar »komisch oder?« – und erreichte damit viele Hunderttausend Follower. Bis heute hat sich Massiv in keinem Statement für die Verbreitung dieser antisemitischen Fake News entschuldigt, die auf einem Artikel der syrischen Staatszeitung »Al Thawra« vom 15. September 2001 basierten.

GERÜCHT Seitdem begegnete mir in der Szene dieses Gerücht immer wieder. Wenn ich den Leuten widersprach, schauten sie mich oft ziemlich verdutzt an. Ab 2008 machte dann eine fünfteilige YouTube-»Doku« die Runde, die von vielen heiß diskutiert wurde. Ihr Name: »Zeitgeist«. Aus heutiger Sicht leider ein sehr zutreffender Titel, denn die Inhalte dieser »Doku« prägen bis heute die Gemüter vieler.

Dabei handelte es sich um ein krudes Machwerk voller wahnwitziger Thesen, die zu einer »Superverschwörungstheorie« fusioniert wurden – von den Göttern Ägyptens über das frühe Christentum bis zu den Anschlägen vom 11. September und Verbindungen zwischen »jüdischer« Hochfinanz und Kriegswirtschaft.

Diese hoch manipulative Pseudo-Doku voller zweifelhafter Darstellungen und unbelegter Thesen war vielleicht so etwas wie die »Star Wars«-Saga der Verschwörungsdokus und wurde bis heute weit über zehn Millionen Mal geklickt. Weitere krude YouTube-»Dokus« dieser Art sollten folgen. In der Rapszene hat man sich diese pseudoaufklärerischen Filmchen bei einem abendlichen Joint reingezogen, wie man es heute mit Netflix-Serien tut. Für viele in der Szene wurden diese Verschwörungstheorien mit der Zeit zu einem ansteckenden »Geheimwissen«.

GLEICHGESINNTE Einige Rapper fingen damit an, Andeutungen in ihren Songs oder in Interviews zu machen. Dadurch entwickelte sich eine Art »erlesener Kreis von Gleichgesinnten«, der durch die Reichweite im Internet immer größer wurde. Sehr viele gerieten durch diese sogenannten Dokus in einen Sog, aus dem sie nicht mehr herausfanden, und begannen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Sie seien »erwacht«, hieß es, und wer nicht an diese Verschwörungstheorien glaube, gehöre zu den systemtreuen »Schlafschafen«.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Das Misstrauen gegenüber den etablierten Medien wuchs mit der Zeit zu einer vollständigen Ablehnung heran, weshalb mich Sidos aktuelle Aussagen nicht überraschen, wenn er davon schwurbelt, dass unsere Medien alle einem reichen Typen gehören und wir deshalb »alternative Medien« brauchen.

Was wir heute bei Künstlern wie Xavier Naidoo, Sido oder Kollegah beobachten, sollte uns alle alarmieren, denn sie spiegeln einen Mindstate in unserer Gesellschaft wider, der inzwischen weit über die Rapszene hinausgeht.

VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN Diese Künstler wissen, dass sie mit ihren Aussagen polarisieren. Doch sie sind sich inzwischen auch einer riesigen Anhängerschaft von Gleichgesinnten gewiss und haben deshalb keine Angst vor Konsequenzen. Die Verschwörungstheorien, die sie reproduzieren, sind keine blanke Provokation. Ein Einblick in ihre Weltanschauung und enorme Reichweite macht sie zu gefährlichen Multiplikatoren für Botschaften, die unsere Demokratie gefährden. Die in alle politischen Richtungen anschlussfähigen antisemitischen Verschwörungstheorien bilden den Mörtel für eine Querfront, die sich nicht mehr nur aus rechten Radikalen und linken Extremisten zusammensetzt.

Ihr Einfluss reicht inzwischen tief in die Mitte der Gesellschaft und birgt ein reaktionäres sowie gewaltbereites Potenzial. Deshalb bin ich überzeugt: Die Deutschrapszene braucht eine Therapie. Und deshalb passt es schon ganz gut, dass sich Sido und Ali Bumaye schon mal auf eine Couch legen.

Der Autor ist Rapper und Begründer der Konzertreihe »Rap am Mittwoch«.

Der genaue Wortlaut von Sidos Äußerungen zur Familie Rothschild, Kindesentführungen, Adrenochrom und anderen Verschwörungsmythen findet sich hier.

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024