Interview

»Das Misstrauen bleibt«

Stella Leder über Kulturstaatsministerin Claudia Roth, Antisemitismus im Kulturbetrieb und fehlende Empathie gegenüber Jüdinnen und Juden in der Kunstwelt

von Joshua Schultheis  04.06.2023 00:44 Uhr

»Ich befürchte eine stille, unbemerkte Abwanderung von jüdischen und antisemitismuskritischen Personen«: Stella Leder Foto: Nina Pieroth

Stella Leder über Kulturstaatsministerin Claudia Roth, Antisemitismus im Kulturbetrieb und fehlende Empathie gegenüber Jüdinnen und Juden in der Kunstwelt

von Joshua Schultheis  04.06.2023 00:44 Uhr

Frau Leder, vor zwei Wochen wurde Claudia Roth auf der Jewrovision von jüdischen Jugendlichen ausgebuht. Woher kommt diese Wut auf die Kulturstaatsministerin?
Das ist vor allem das Resultat ihrer Rolle während der documenta fifteen. Monatelang wurden dort einem großen Publikum antisemitische Werke gezeigt, ohne dass interveniert wurde. Die Rechte der Künstler, die antisemitische Werke produziert hatten, wurden den Rechten der Betroffenen von Antisemitismus gegenüber faktisch priorisiert. Die Verantwortung hierfür wurde hin und her geschoben. Ich denke, bei den jüdischen Jugendlichen hat das Frust und Wut ausgelöst.

Claudia Roth hat Fehler eingeräumt im Umgang mit der documenta – und oft betont, dass sie entschlossen gegen Antisemitismus vorgehen will. Finden Sie das glaubwürdig?
Solche Versprechen allein helfen nicht gegen Antisemitismus, auch wenn sie wichtig sind. Ich habe gemeinsam mit Kollegen ein Netzwerk antisemitismuskritischer und jüdischer Künstler gegründet. Unsere Anliegen werden von der Kulturpolitik nicht vertreten. Selbstverständlich arbeitet eine große Verwaltung langsam. Aber solange von der Kulturstaatsministerin keine sichtbaren Maßnahmen ergriffen werden, um Antisemitismus im Kulturbetrieb zurückzudrängen, bleibt das Misstrauen.

Was hat die documenta fifteen für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland bedeutet?
Es herrschte eine große Fassungslosigkeit darüber, dass antisemitische Angriffe in den vergangenen Jahren wirklich von allen Seiten kamen. Es gab den Terroranschlag von Halle, dann die Holocaust-Relativierungen der Corona-Leugner, und mit der documenta kam der Aufwind für die reaktionäre und antisemitische Boykott-Bewegung BDS, verteidigt von liberalen Intellektuellen. Für die meisten jüdischen und antisemitismuskritischen Künstler kam der documenta-Skandal jedoch nicht besonders überraschend und war mehr eine Bestätigung ohnehin negativer Annahmen. Unter diesen Leuten herrscht eine große Resignation.

Claudia Roth stimmte 2019 einem Bundestagsbeschluss nicht zu, der die gegen Israel gerichtete Boykott-Bewegung BDS als antisemitisch verurteilte. Auch die »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«, der sich zahlreiche deutsche Kultureinrichtungen anschlossen, wendet sich gegen den Beschluss. Wie hat das die Kulturlandschaft in Deutschland verändert?
Die Initiative ist Ausdruck eines strukturellen Problems. Nicht nur Leiter von großen Kulturinstitutionen unterstützen die Kampagne, sondern auch zahlreiche wichtige Kuratoren, Professoren und Künstler, die meinten, sie müssten sich schützend vor Institutionen stellen – was kulturgeschichtlich eher ungewöhnlich ist. Das sind Leute, die in Jurys und Kommissionen sitzen und dort über Projekte, somit also über das Einkommen anderer Künstler entscheiden. Das sind selbstverständlich nicht alles Menschen, die BDS unterstützen, aber ich glaube, dass niemand von ihnen verstanden hat, dass, wer BDS einlädt, Antisemiten ins Haus bekommt. Für antisemitismuskritische Künstler war das ein großer Schock. Unter ihnen herrscht das Gefühl vor, dass die eigene Position marginalisiert ist und man sie lieber nicht zeigen sollte.

Die »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« setze sich ein »für die Verteidigung eines Klimas der Vielstimmigkeit«, heißt es in ihrem Gründungstext.
Das Gegenteil passiert. Jüdische Perspektiven, die nicht antizionistisch sind, verstummen. Weil die Betroffenen in Abhängigkeitsverhältnissen stehen und Sorge um ihre Stellen haben. Dass das passiert, ist nicht verwunderlich: Wenn man einer antisemitischen Bewegung die Tür öffnet, werden Leute, die von Antisemitismus betroffen sind, früher oder später gehen. Obwohl die Idee der Diversity immer wichtiger wird, fehlt im Kulturbetrieb häufig Empathie mit Jüdinnen und Juden. Jüdische Künstler, die israelbezogenen Antisemitismus geflissentlich übersehen, lädt man dagegen gern ein.

Kennen Sie Künstler, die aufgrund dieser Stimmung ihren Job aufgegeben haben?
Ein Kollege hat in der staatlichen Kulturverwaltung gearbeitet und sich dort für die Übernahme der Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) eingesetzt. Als ihm klar wurde, dass sein Unterfangen aussichtslos ist, warf er das Handtuch. Eine weitere Kollegin hat in einer Institution gearbeitet, die sich der Initiative Weltoffenheit angeschlossen hatte. Als man sich dort positiv auf eine Künstlerin beziehen wollte, die BDS unterstützt, erhob sie Einwände. Als sie daraufhin in Gesprächen immer wieder zu ihrer Meinung über die israelische Besatzungspolitik befragt wurde, beschloss sie zu gehen. In unserem Netzwerk sind Kuratorinnen, die sagen, sie wissen kaum noch, für welche Häuser sie arbeiten können, und Studenten, die überlegen, nach dem Studium nicht im Kulturbetrieb zu arbeiten.

Was bedeutet das für die betroffenen Kultureinrichtungen?
Ich befürchte eine stille, unbemerkte Abwanderung von jüdischen und antisemitismuskritischen Personen aus diesen Institutionen heraus. Juden, die nicht antizionistisch sind, überlegen es sich dreimal, bei israelfeindlichen Aussagen oder Kunstprojekten etwas zu sagen. Der Druck auf Kulturschaffende, insbesondere wenn sie jüdisch sind, sich auf der »richtigen« Seite des Nahostkonfliktes zu positionieren, ist enorm. Wenn Projekte, die sich mit Israel auf positive Weise beschäftigen, von Jurys abgelehnt werden, in denen Unterstützer der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit sitzen, fragt man sich natürlich, ob solche Projekte politisch unerwünscht sind. So viel zum Thema Kunstfreiheit.

In der Kunstszene wähnt man sich oft besonders reflektiert und selbstkritisch. Was passiert, wenn man in dieser Welt den Vorwurf des Antisemitismus erhebt?
Häufig wird darauf mit einer Täter-Opfer-Umkehr reagiert: Nicht die von Antisemitismus Betroffenen sollen geschützt werden, sondern diejenigen, die der Vorwurf des Antisemitismus getroffen hat. Dieser Abwehrreflex steht in Deutschland in einer weit zurückreichenden Kontinuität: Auch die kritische Aufarbeitung der eigenen Verstrickung in das Regime der Nationalsozialisten wurde bis auf wenige gelungene Gegenbeispiele in kaum einer Kultureinrichtung ernsthaft in Angriff genommen.

Vor zwei Jahren haben Sie den Sammelband »Über jeden Verdacht erhaben?« herausgegeben, eine recht ernüchternde Bestandsaufnahme über Antisemitismus in Kunst und Kultur. Man hat den Eindruck, es sei seitdem alles noch schlimmer geworden.
Das kann ich schwer einschätzen. Antisemitismus wird sichtbarer. Das hat damit zu tun, dass die Grenzen zwischen Kunst und Politik verschwimmen. Und natürlich auch damit, dass inzwischen klar ist, dass Antisemitismusskandale zwar anstrengend, aber durchaus rentabel sind für die involvierten Künstler und Institutionen. Trotz aller Unkenrufe hatte keiner dieser Skandale negative Konsequenzen für die Beteiligten.

Was erwarten Sie von der Kulturpolitik?
Die Politik müsste für den Schutz antisemitismuskritischer Mitarbeiter in Kulturins­titutionen sorgen. Dafür bräuchte es zum Beispiel unabhängige Beschwerdestellen. Außerdem müssen spartenspezifische Angebote für antisemitismuskritische künstlerische Begleitungen geschaffen werden, die Kulturinstitutionen in Anspruch nehmen können, wenn sie es möchten. Es könnten spezifische Förderprogramme eingerichtet werden, um sich künstlerisch mit Antisemitismus oder der NS-Vergangenheit der eigenen Institution zu beschäftigen. Und es muss gewährleistet werden, dass in Findungskommissionen und Jurys, die wichtige Positionen besetzen, auch Künstler mit Expertise über Antisemitismus vertreten sind. Als Grundlage sollte die IHRA-Definition gelten. Es kann nicht sein, dass sich jede Kultureinrichtung ihre eigene Antisemitismusdefinition backen kann.

Das von Ihnen gegründete »Institut für Neue Soziale Plastik« hat sich unter anderem der Antisemitismusprävention verschrieben. Was ist Ihr Ansatz?
Wir machen eigene Kunstprojekte, arbeiten aber auch oft mit anderen Institutionen zusammen, mit denen wir uns künstlerisch mit Antisemitismus auseinandersetzen. Ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit ist das Netzwerken von antisemitismuskritischen Kulturschaffenden sowie Gespräche, die wir mit Vertretern von Politik und Verwaltung führen. Eines unserer Ziele ist, dass jüdische Perspektiven bei Fragen der Diversität mehr berücksichtigt werden, als es bisher der Fall ist. Und dass Kulturpolitik versteht, dass Kunstfreiheit die Freiheit jüdischer und antisemitismuskritischer Künstler einschließen muss.

Machen Sie dabei auch Erfahrungen, die Ihnen Hoffnung geben?
Es gibt Institutionen, die es mit dem Einsatz gegen Antisemitismus sehr ernst meinen. Es gibt auch immer wieder gelungene Projekte, die sich mit Judenhass oder der NS-Vergangenheit auseinandersetzen. Ich wünsche mir, dass der Fokus der Aufmerksamkeit mehr auf diese positiven Beispiele gelenkt wird. Bis diese die Regel sind, ist es aber noch ein langer Weg. Ich fürchte, bis dahin werden wir noch einige Skandale wie den auf der documenta erleben.

Mit der Theaterdramaturgin und Mitbegründerin des Instituts für Neue Soziale Plastik sprach Joshua Schultheis.

Stella Leder: »Über jeden Verdacht erhaben? Antisemitismus in Kunst und Kultur«. Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2021, 242 S., 19,90 €

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