Die Kontroversen der vergangenen Monate haben eines gezeigt: Wenn es um den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern geht, dominieren in den Debatten eher Befindlichkeiten und Ideologie, selten aber Faktenwissen. Ohnehin scheinen Empirie und Kontexte in den postkolonialen juste milieus mittlerweile im Ruf zu stehen, das Teufelswerk alter weißer Männer zu sein.
Umso wichtiger sind daher Publikationen, die genau das liefern, was zum Verständnis epochaler Ereignisse unerlässlich ist, und zwar solide historiografische Arbeiten. Das Buch 1948 von Benny Morris ist genau so eines. Der israelische Geschichtsprofessor, übrigens auch 1948 geboren, entfaltet darin die Ereignisse rund um den Unabhängigkeitskrieg Israels.
Zwar ist das Buch bereits 2008 erschienen und erst jetzt ins Deutsche übersetzt worden. Die Aussagekraft seiner Schilderungen und Thesen ist deshalb aber keinesfalls geringer.
»Der Krieg von 1948, der von der arabischen Welt als Erster Palästinakrieg, von den Palästinensern als al-nakba (die Katastrophe) und von den Juden als Unabhängigkeitskrieg (milhemet haʼatzmaʼut), Befreiungskrieg (milhemet hashihrur) oder Gründungskrieg (milhemet hakomemiyut) bezeichnet wird, hatte zwei voneinander zu unterscheidende Phasen: einen Bürgerkrieg, der am 30. November 1947 begann und am 14. Mai 1948 endete, und einen konventionellen Krieg, der mit dem Einmarsch der Armeen der umliegenden arabischen Staaten in Palästina am 15. Mai begann und 1949 endete«, schreibt Morris.
Benny Morris räumt mit Mythen auf und kratzt an einem gängigen israelischen Narrativ.
Der Verweis auf verschiedene Phasen ist von großer Relevanz. Denn, und das zeichnet Morris minutiös nach, die jüdische Seite gewann in dem oftmals blutigen interkommunalen Konflikt, der durch Guerillaaktionen und Terrorakte gekennzeichnet war, genau die militärische Expertise, um in der anschließenden Runde der Auseinandersetzungen mit den regulären Armeen der arabischen Staaten letztendlich die Oberhand zu gewinnen.
Es war kein Wunder, die vielfache Übermacht besiegen zu können
Damit kratzt Morris kräftig an einem gängigen israelischen Narrativ, und zwar, dass es einem Wunder glich, die vielfache Übermacht besiegen zu können. Dem war eben nicht so, schreibt er. Bei genauer Betrachtung sah es um die Chancen auf einen israelischen Sieg von Anfang gar nicht schlecht aus.
So agierten die israelischen Streitkräfte auf einem Terrain, das sie bestens kannten, nämlich dem eigenen. Man hatte klare Kommandostrukturen geschaffen, das Milizwesen weitestgehend neutralisiert und ein klandestines Netzwerk zur Beschaffung von Waffen und Munition ausgebaut, dessen Effizienz sich nun bemerkbar machte.
Die Gegenseite war zwar quantitativ in jeder Hinsicht besser aufgestellt, hatte aber so gut wie keine Kampferfahrungen. Zudem grassierten Inkompetenz, Misstrauen und Rivalitäten, weil Ägypten, Syrien und Jordanien jeweils ein möglichst großes Stück »Palästina« an sich reißen wollten. Einen gleichnamigen Staat hatte keiner von ihnen auf der Agenda.
Der entscheidende Faktor war aber ein anderer. »Die meisten Hagana-Truppen hatten Angehörige im Holocaust verloren, ein Verlust, der ihnen noch frisch im Gedächtnis war, und sie waren von grenzenloser Motivation und einer gewissen Wut erfüllt.«
Das Buch erschien in Israel bereits 2008 und wurde erst jetzt ins Deutsche übersetzt.
Morris ist zudem Experte, wenn es um die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems geht. Auch hier erteilt er der israelischen Geschichtslegende vom Aufruf der Araber an die Palästinenser, das Land zu verlassen, um anschließend mit ihren siegreichen Armeen wieder zurückzukehren, als Ursache eine klare Absage.
Ebenso wenig, so kann der Historiker belegen, gab es auf israelischer Seite eine gezielte, planmäßige oder flächendeckende Vertreibungspolitik. Er verweist auf eine Vielzahl von Entscheidungen einzelner Akteure, die abhängig von der jeweiligen Situation gefällt wurden.
Die arabische Armee wären vor einem Genozid kaum zurückgeschreckt, meint Morris
Auch zu einem anderen kontroversen Thema nimmt Morris kein Blatt vor den Mund. »In Wahrheit begingen die Juden jedoch weitaus mehr Gräueltaten als die Araber und töteten im Laufe des Jahres 1948 weitaus mehr Zivilisten und Kriegsgefangene durch gezielte Gewalttaten.«
Das habe einen ganz simplen Grund. »Die arabische Rhetorik mag blutrünstiger gewesen sein und stärker zu Gräueltaten angestiftet haben als die jüdische öffentliche Rhetorik, aber der Krieg selbst bot den Arabern weitaus weniger Gelegenheiten, ihre Feinde zu massakrieren.« Kurzum, wären die arabischen Armeen erfolgreicher gewesen, so ist er überzeugt, wären sie vor einem Genozid kaum zurückgeschreckt.
Denn eine Komponente wird ebenfalls gern übersehen, und das ist der dschihadistische Charakter, den der erste israelisch-arabische Krieg bereits hatte, ebenso das Beschwören einer Gefahr für die Heiligen Stätten in Jerusalem. »Es handelte sich hierbei also um eine grundlegende Motivation«, betont Morris im Interview in der deutschen Ausgabe. Und diese ziehe sich wie ein roter Faden in die Gegenwart.
Selbstverständlich ist die Lektüre des Buches herausfordernd. Denn Morris erweist sich als detailverliebt, wenn es um das Faktische geht. Aber genau das muss man auch sein, um der Komplexität der Ereignisse von 1948 gerecht zu werden.
Benny Morris: »1948 – Der erste arabisch-israelische Krieg«. Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2023, 646 S., 32 €