Interview

»Man kann keine Ehrfurcht vor dem Bösen haben«

Ferdinand von Schirach über Strafverteidiger, Verbrechen, Schuld und Nazitäter

von Philipp Peyman Engel  09.08.2010 17:02 Uhr

Rechtsanwalt und Buchautor: Ferdinand von Schirach Foto: dpa

Ferdinand von Schirach über Strafverteidiger, Verbrechen, Schuld und Nazitäter

von Philipp Peyman Engel  09.08.2010 17:02 Uhr

Herr von Schirach, Sie sind als Strafverteidiger seit Jahren mit menschlichen Abgründen konfrontiert. Wird man da nicht zwangsläufig zum Zyniker?
Zynismus ist keine gute Haltung, er macht die Welt klein und hässlich. Der Beruf bewirkt eher das Gegenteil: Er lässt mich die Dinge vielschichtiger sehen. Ich denke mehr über den Menschen nach. Ich urteile weniger, ich betrachte mehr. Meine Haltung ist die eines interessierten Zuschauers, »verhaltenes Mittun« nannte Schopenhauer das.

Der Glaube an die Menschheit ist Ihnen trotz allem nicht abhandengekommen?
Nein, der Mensch ist wunderbar und schrecklich zugleich. Er konnte Opern wie »Figaros Hochzeit« komponieren, Bücher wie Tolstois »Krieg und Frieden« schreiben und Klavier spielen wie Glenn Gould. Der Mensch kann aber eben auch die schlimmsten Dinge tun.

Halten Sie es für möglich, selbst zum Verbrecher zu werden?
So wie jeder andere auch, ja. Menschen, die in der Strafjustiz arbeiten, sind vielleicht etwas weniger gefährdet – sie wissen über die Folgen genau Bescheid. Ich kenne den Ermittlungsrichter, vor dem ich stehen würde. Das Vermögen, ein Verbrechen zu begehen, steckt in jedem von uns, wir alle sind mögliche Straftäter. Es ist die Situation, die das Verbrechen gebiert. Wir tanzen auf einer dünnen Schicht aus Eis, und manchmal bricht sie.

Ist das der Grund dafür, dass so viele sonst durch und durch friedliche Bürger geradezu süchtig sind nach blutrünstigen Kriminalromanen?
Ich glaube, es ist eine Stellvertretergeschichte. Nicht wir, sondern ein anderer begeht das Verbrechen. Wir liegen unter der warmen Bettdecke, sehen uns das im Fernsehen an oder lesen einen Krimi und können uns ein wenig gruseln. Das ist ungefährlich, aber aufregend. Das Gegenteil unseres normalen Lebens. Wer hat sich nicht einmal einen ganz perfekten Bankraub oder den perfekten Mord überlegt? Unsere eigene Welt ist meistens ziemlich langweilig, alles ist festgelegt. Schon wenn man morgens in die S-Bahn einsteigt, gibt es 20 Verbotsschilder. Alles in unserem Leben scheint verboten. Sie dürfen nicht rauchen, nicht die Fenster öffnen oder die Fenster schließen. Sie müssen den Müll trennen, sich anschnallen, bei Rot halten und dürfen nur an bestimmten Stellen parken. Bis die meisten von uns an ihrer Arbeitsstelle morgens angekommen sind, mussten sie 100 Ge- und Verbote beachten.

Der Verbrecher hingegen kümmert sich nicht um all diese Vorschriften.
Ja, er ist frei, so kommt es uns vor. Er ist zügellos. Das fasziniert uns. Wir wissen, dass er scheitert, wir sehen ihm dennoch gerne zu. Ich hatte mal einen Mandanten, der wegen Mordes angeklagt war. Er saß in einer Verhandlungspause hinter der Panzerglasscheibe im Gerichtssaal und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte eine lange Haftstrafe zu erwarten und befand sich bereits sieben Monate im Gefängnis. Der Wachtmeister lief auf ihn zu und sagte: »Sie dürfen hier nicht rauchen.« Mein Mandant antwortete: »Was wollen Sie machen? Mich verhaften?«

Ihr neues Buch heißt »Schuld«. Wie stehen Sie zu den Erkenntnissen von Hirnforschern wie Gerhard Roth, die zu dem Schluss gelangen, dass es keine Schuld geben kann, da alles, auch das Böse, gehirnphysiologisch determiniert ist?
Es ist gut möglich, dass Roth recht hat und wir keinen wirklich freien Willen haben. Aber das Merkwürdige ist, dass es keine Rolle für unsere Gesellschaft spielt, ja, spielen kann. Wir müssten sonst unser Leben und unsere Staatsform aufgeben – niemand könnte mehr für etwas eingesperrt werden, niemand mehr für etwas verurteilt, niemand für etwas verantwortlich gemacht werden.

Sie haben vor Kurzem gesagt: »Es soll in unserer Galaxie hundert Milliarden solcher Sonnensysteme wie unseres geben und wiederum hundert Milliarden solcher Galaxien. Und das soll nur zehn Prozent des Universums ausmachen, dazwischen ist es leer und kalt. Wenn Sie sich das nur zwei Sekunden lang vorstellen, ist alles, was wir tun, völlig unbedeutend.« Warum sollen wir inmitten dieses unvorstellbar bedeutungslosen kosmischen Nichts überhaupt irgendwelche Gesetze befolgen?
Das ist eine gute Frage. Die Antwort lautet: Wir tun es, weil wir zu der Gemeinschaft der Menschen gehören. Und als Menschen haben wir die Pflicht, anderen Menschen kein Leid anzutun. Die Gesetze sind dafür die Richtschnur.

Begreifen Sie sich in Ihrem Beruf als Strafverteidiger eher als Bremse oder mehr als das Gaspedal am Wagen der Freiheit?
Der Verteidiger ist die Bremse am Wagen der Gerechtigkeit und damit das Gaspedal am Wagen der Freiheit. Nur, wenn in einem Prozess alles genau überprüft wird, kommen wir der Wahrheit näher. Und nur eine so erstrittene Wahrheit bedeutet am Ende unsere Freiheit. Max Alsberg schrieb 1930, die Aufgabe des Strafverteidigers sei es, »den hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit zu hemmen«. Alsberg, der einer jüdischen Kaufmannsfamilie entstammte, war der bedeutendste Anwalt der Weimarer Republik. Sein Satz ist die Essenz der Strafverteidigung.

Würden Sie einen Mandanten auch dann ausschließlich auf Basis der dem Gericht vorliegenden Tatsachen verteidigen, wenn er Ihnen im Vorfeld gesagt hätte, dass er der gesuchte Mörder ist?
Natürlich. Das ist mein Beruf. Geständnisse, die gegenüber einem Anwalt abgelegt werden, stimmen ja oft auch nicht. Sie müssen in einem kontradiktorischen Verfahren überprüft werden.

Das heißt, vor Gericht würden Sie nicht die Frage stellen: »Ist mein Mandat der Täter?«, sondern: »Reichen die Beweise aus, um meinen Mandaten zu verurteilen?«
Genau, nur so kann Gerechtigkeit entstehen. Der Staatsanwalt klagt an, der Verteidiger verteidigt, der Richter urteilt. Reichen die Beweise nicht aus, muss er freigesprochen werden. So einfach ist das.

»Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.« Mit diesem Satz haben sich viele Täter des NS-Regimes reinzuwaschen versucht. Wie stehen Sie als Strafverteidiger, der unter anderem den SED-Funktionär Günter Schabowski verteidigt hat, zu diesem Satz?
Der Satz ist grundsätzlich richtig, er ist Grundlage unserer Verfassung und unseres Strafgesetzes: Nulla poena sine lege, keine Strafe ohne Gesetz. Aber es gibt Ausnahmen. Gustav Radbruch, ein bedeutender Rechtsphilosoph, hat einmal gesagt, dieser Grundsatz gelte dann nicht, wenn das Gesetz, auf das sich der Täter beruft, die Gleichheit aller Menschen »bewusst verleugne«. Deshalb konnten die nationalsozialistischen Täter in Nürnberg sich auch nicht damit entschuldigen, es hätte Gesetze gege- ben, die ihnen ihre Taten erlaubten. Ich halte das für richtig. Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse wurden damit auch zur Grundlage internationaler Strafgerichtsbarkeit. Ob die »Radbruchsche Formel« allerdings auch für die DDR gilt, scheint mir zweifelhaft: Letztlich würde das Auschwitz und die Toten an der innerstaatlichen Grenze gleichsetzen.

Hängt Ihre Berufswahl mit der Schuld Ihres Großvaters Baldur von Schirach zusammen, dem NS-Reichsjugendführer und ehemaligen Gauleiter von Wien, der in Nürnberg verurteilt wurde?
Nein.

Also keine – unbewusste – rückwirkende Verteidigung Ihres Großvaters, der in hohem Maße Schuld auf sich geladen hat?
Wenn es unbewusst ist, kann ich es nicht beantworten. Ich würde meinen Großvater nicht verteidigen. Weder in einem noch außerhalb eines Strafprozesses.

Wie ist man bei Ihnen zu Hause mit der Schuld Ihres Großvaters umgegangen?
Sehr offen. In vielen deutschen Familien kam die NS-Vergangenheit einzelner Mitglieder überraschend ans Licht, man hatte nie darüber gesprochen. Das gab es bei uns natürlich nicht, die Schuld meines Großvaters war ja eindeutig. Wir sprechen auch heute offen in der Familie über ihn, einer meiner Onkel hat darüber ein Buch geschrieben.

»Wenn man mir den Vorwurf machen wollte, dass ich aus dieser Stadt Aberzehntausende ins östliche Ghetto abgeschoben habe, muss ich antworten: Ich sehe darin einen aktiven Beitrag zur europäischen Kultur.« Was denken Sie, wenn Sie diese Worte Ihres Großvaters über die von ihm veranlasste Deportation von mehr als 60.000 Juden lesen?
Ich habe diesen Satz vor über 25 Jahren das erste Mal gelesen. Damals war ich sprachlos. Und ich bin es heute noch.

Ihr Großvater veröffentlichte 1967 unter dem Titel »Ich glaubte an Hitler« seine Memoiren. Darin bestritt er, von dem Massenmord an Juden gewusst zu haben. Hat er an seine eigenen Worte geglaubt?
Es ist nachgewiesen, dass Baldur von Schirach im Oktober 1943 bei Himmlers Posener Rede anwesend war. Es ging dort um nichts anderes.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum so viele Deutsche mit einer gewissen Ehrfurcht vom Bösen sprechen? Zum Beispiel die Verbrechen der Nazis mit einem gewissen »Sündenstolz« betrachten?
Man kann keine Ehrfurcht vor dem Bösen haben, man kann nicht stolz auf Verbrechen sein. Das wäre pervers. Man kann das Böse beschreiben, begreiflich machen. Am Ende ist es meist nur banal.

Zur Person:
Ferdinand von Schirach wurde 1964 in München geboren. Mit zehn Jahren kam er in das Jesuiteninternat St. Blasien, wo er bis zu seinem Abitur blieb. Nach dem Studium in Bonn ließ er sich 1994 als Rechtsanwalt in Berlin nieder, wo er seitdem als Anwalt und Strafverteidiger arbeitet. Zu seinen Mandanten gehören vornehmlich Industrielle, Prominente und Angehörige der Unterwelt. Mit seinem Debüt »Verbrechen« gelang ihm 2009 auf Anhieb der Durchbruch als literarischer Autor. In diesen Tagen erschien im Piper-Verlag sein zweiter Erzählband »Schuld«.

Mit dem Autor sprach Philipp Peyman Engel.

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