Bundespräsidenten

An erster Stelle

Joachim Gauck

Herr Gauck, was sollte getan werden, um jüdisches Leben in Deutschland zu fördern?
Als Ronald Lauder in Berlin ein neues jüdisches Lehrhaus eröffnete, war ich als Redner eingeladen und bin gerne gekommen. Ich habe dort meine große Freude darüber ausgedrückt, dass in Berlin, der Stadt, in der die Vernichtung des europäischen Judentums geplant und in die Wege geleitet wurde, wieder jüdisches Leben in großer Vielfalt möglich wurde. Sie können davon ausgehen, dass ich diese Entwicklung auch weiterhin mit viel Interesse verfolge. Ich arbeite als Vorsitzender des Vereins »Gegen Vergessen – Für Demokratie«. Dieser Verein, der sich intensiv mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzt und in dem viele bekannte Politiker aus allen Parteien mitarbeiten, ist ein ständiger Partner von Repräsentanten des jüdischen Lebens in Deutschland.

Wird in Deutschland genügend gegen Antisemitismus unternommen?
Die Politik und die Zivilgesellschaft sind stets aufgefordert, auf jede Form von intolerantem Verhalten, das die Würde des Menschen angreift, wachsam zu reagieren. Dies betrifft den Antisemitismus genauso wie Formen der Fremdenfeindlichkeit. Wir haben auch einigen Grund zur Besorgnis, was das Anwachsen von Vorurteilen in einigen westeuropäischen Ländern gerade unter Jugendlichen aus Einwandererfamilien betrifft. Ich denke da beispielsweise an die Entwicklung in Frankreich. Wir sollten in Deutschland auch unter diesem Gesichtspunkt alles unternehmen, um eine möglichst weitgehende Integration unserer jungen Menschen aus Familien mit Immigrationshintergrund zu erreichen.

Wie weit darf die deutsche Politik gehen, wenn sie Israel kritisiert?
Ein Deutscher darf Israel kritisieren, soweit er es mit seinem Gewissen vereinbaren kann, in Kenntnis der deutschen Geschichte und unter Achtung der Menschenrechte.
Luc Jochimsen

Frau Jochimsen, was sollte getan werden, um jüdisches Leben in Deutschland zu fördern?
Nachdem wir das jahrhundertealte vielfältige jüdische Leben in Deutschland vernichtet und uns selbst dabei auf das Schrecklichste beraubt haben, müssen wir fast von vorn anfangen bei der Förderung jüdischen Lebens in unserem Land. Das bedeutet vor allem: Es muss Sicherheit geben für alle jüdischen Menschen. Wohnen, arbeiten, sich vergnügen, zur Schule gehen, beten, der Toten gedenken – all das muss in selbstverständlicher Freiheit möglich sein. Ich hoffe auf den Tag, an dem jüdische Kindergärten und Schulen, Synagogen und Friedhöfe nicht mehr besonders geschützt werden müssen. Ich schäme mich jedes Mal, wenn ich die Sicherheitsvorkehrungen sehe. Immer noch fehlt es auch an einem lebendigen Austausch der »Kulturen« und Dialog der Religionen. Wie hieß die Botschaft anlässlich der jüdischen Filmtage so schön: »You don’t have to be Jewish – to enjoy Jewish films«. Wie schön und wie wahr!

Wird in Deutschland genügend gegen Antisemitismus unternommen?
Nein. Der europäische Antisemitismus ist wie ein Dämon, der einen Kreis um unser Leben zieht, vom Gestern ins Heute. Das habe ich bei meinen Studien über Theodor Herzls Leben und seine Vision vom »Judenstaat« gelernt. Immer, wenn wir meinen, der Antisemitismus sei überwunden, taucht er wieder auf. Unter neuen Masken, neuen Namen, neuen Gesten. Auch in Deutschland. Ich bin davon überzeugt, dass es eine permanente Aufgabe für uns ist, sich gegen Antisemitismus zu stellen. Auch weil wir ja wissen, dass sich Diskriminierung und Ausgrenzung, einmal zugelassen, wie ein Buschfeuer in alle Gesellschaftsbereiche ausbreiten.

Wie weit darf die deutsche Politik gehen, wenn sie Israel kritisiert?
So weit, wie die Menschenrechte es fordern – das gilt für Israelis wie Palästinenser.

Christian Wulff

Herr Wulff, was sollte getan werden, um jüdisches Leben in Deutschland zu fördern?
Mir ist wichtig die Werbung für die Eigenart und die Vielfalt jüdischer Religion und Kultur, die seit Jahrhunderten zu unserem Land gehört und es in unschätzbarem Maß bereichert hat. Ich freue mich, dass heute überall in Deutschland wieder Synagogen entstehen. Als Vorsitzender des Kuratoriums der Seligmann-Stiftung setze ich mich vor allem für die Förderung der Synagogalmusik ein. Wichtig ist auch die Ermöglichung der Einreise jüdischer Bürgerinnen und Bürger, vor allem aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Sie hat in den letzten zwei Jahrzehnten einen erfreulichen Aufschwung beschert. Die finanzielle Förderung durch die öffentliche Hand, aber auch durch Stiftungen und Spenden, ist ebenfalls segensreich.

Wird in Deutschland genügend gegen Antisemitismus unternommen?
Im Kampf gegen den Antisemitismus dürfen wir nicht nachlassen: durch öffentliches Reden, durch Vorbild und Präsenz, durch Beispiel und Tat. Hier ist vor allem die Politik gefordert, der Gesetzgeber, die Regierung, unsere Rechtsprechung. Keinesfalls dürfen wir antisemitische Agitation, zum Beispiel an unseren Schulen, dulden. Am wichtigsten aber ist das alltägliche Bemühen in unserer Gesellschaft um Verständnis, Miteinander und Normalität. Im Dezember letzten Jahres habe ich als niedersächsischer Ministerpräsident in Brüssel ein großes »Weihnukka«-Konzert veranstaltet, das gemeinsame Feiern des christlichen Weihnachts- und des jüdischen Chanukka-Festes. Das fand große Resonanz. Meine eigene Sozialisation ist eng mit dem Eintreten gegen Antisemitismus verbunden. So organisierte ich als Schüler meine erste Demonstration zur Synagoge in meiner Heimatstadt Osnabrück als Zeichen der Solidarität.

Wie weit darf die deutsche Politik gehen, wenn sie Israel kritisiert?
Für Deutschland gilt zuerst und durchgehend die bedingungslose Anerkennung des Existenzrechts Israels. Deutschland versteht sich, in Anerkennung seiner historischen Schuld, als moralischer und politischer Schutz Israels. Das schließt konstruktive Kritik und freundschaftliche, gemeinsame Suche nach Lösungen nicht aus. Die Anerkennung des Rechts der Palästinenser auf einen eigenen Staat liegt meines Erachtens auch in israelischem Interesse.

Die Bundesversammlung mit ihren 1.244 Mitgliedern hat nur eine Aufgabe: den Bundespräsidenten zu wählen. Zu einer Hälfte besteht sie aus Mitgliedern des Bundestags, zur anderen aus Mitgliedern, die von den Landesparlamenten gewählt werden. Das sind oft Vertreter des gesellschaftlichen Lebens. Am 30. Juni tritt die 14. Bundesversammlung in Berlin zusammen, um einen Nachfolger für Horst Köhler zu bestimmen.

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