Cannes

Gordon Gekko gegen Churchill Schwartz

Im Schatten des Crashs: Shia LaBeouf in »Wall Street 2« Foto: cinetext

Als 2008 der US-Immobiliencrash sich zur globalen Finanzkrise ausweitete, dauerte es nicht lange, bis in diversen Publikationen des rechten und linken Narrensaums, aber auch in Leserbriefen seriöser Medien, schnell die Schuldigen ausgemacht waren: Natürlich die Juden!

Mancher befürchtete auch von Oliver Stones neuem Film Wall Street 2 – Money Never Sleeps Mythenbildungen. Schließlich ist der US-Regisseur, wie man seit JFK weiß, Verschwörungstheorien nicht gänzlich abhold. Es kann Entwarnung gegeben werden. Stones neuer Film, der vorige Woche beim Festival in Cannes präsentiert wurde, kommt ohne die Weisen von Zion aus. Juden sind zwar mit von der Partie, aber nicht mehr: Die Schurkenbank »Churchill Schwartz« ist, ganz wie im richtigen Wall-Street-Leben, ein Hybrid aus altem angelsächsisch-protestantischem und neuem jüdischen Geld. Stones Film handelt nicht von Kabalen, sondern vom Kapital.

beschleunigung Wall Street, das Original 1987 war der ultimative Film zur neuen Finanzwelt, zum neokonservativen Gegenmodell des Rheinischen Kapitalismus, zur Ablösung des Produktions-Paradigmas durch das Rendite-Paradigma, zur Welt der Broker und Yuppies, zu den neuen Werten, die mit Thatchers und Reagans Politik gerade am Entstehen war. Die brachte Stone gerade auf den Punkt, als das Modell bereits wieder zu verschwinden schien, im Strudel des ersten großen Börsencrashs von ‹87. Michael Douglas als sardonisch-schurkischer, zugleich charmant-faszinierender Finanzhai Gordon Gekko war ein prophetischer Charakter, in vielem stilbildend, und das nicht selten gegen die Intentionen seines Schöp fers: Die Hosenträger wie die Sprüche ahmten die Yuppies der 90er nach: »Greed is good« – »Gier ist gut«. Wer kennt das nicht?

In Wall Street 2 ist Gekko nach 8 Jahren Knast wegen Insiderhandels, und reingelegt von alten Kollegen, ein Saulus, der den Paulus gibt. Er erklärt uns Zuschauern das »Steroid Banking«, das inzwischen bankrotte Geschäftsmodell, das sich wie Krebs immer weiter ausbreitet und die ganze Erde zerstört. »The mother of all evil is speculation«, hören wir: »Die Mutter allen Übels ist die Spekulation.« Gekko sagt, was wir immer schon dachten: »Is everybody out there nuts?« »Sind da draußen alle verrückt geworden?« Solcher Populismus birgt gewiss auch Gefahren, aber nicht alles ist falsch, bloß weil es einfach klingt.

Knapp erklärt der Film die Finanzkrise: Wie 1929, nur schneller sei das, erläutert ein alter Banker. Und zur Rettung durch den Staat gibt es folgenden, sehr schönen Dialog: »Wie verkaufen wir das dem Kongress?« »Mach’ ihnen Angst!« »Wie?« »Sag’ ihnen die Wahrheit!«

moralismus Man merkt dem Film an, wie fasziniert Oliver Stone – selbst Sohn eines Börsenmaklers – von dieser Welt ist, die er in Form einer präzisen Sozialstudie zeigt und anklagt; wie fasziniert er von ihrer Energie und von ihrem Stil ist. Wall Street 2 ist deutlich von der Lust an seinem Gegenstand geprägt – was Stone dann aber mit viel Moralismus überkompensiert. Die Rahmenhandlung mit dem begabten jungen Broker (Shia LaBoef), der als Gekko-Schwiegersohn in spe mit diesem ein Komplott gegen einen alten Feind schmiedet, bleibt blass. Die Helden tun das Gleiche wie die Schurken. Auch sie machen Geld mit Spekulation, vernichten ihre Gegner durch Gerüchte. Nur eben für die richtige Sache. Für saubere Energie, ungeborene Kinder, die Familie. Der Film entscheidet sich nicht recht zwischen Satire, Pamphlet und Moral-Kantate – mit dem Ergebnis, dass er am Ende ein wenig zwischen allen Stühlen zu sitzen scheint.

»True capitalism is about desaster«, heißt ein letzter Satz des Films. Oliver Stone zeichnet in Wall Street 2 ein Untergangsszenario. Das Reich zerfällt, die Reichen bleiben.

Meinung

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Fall Samir

Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024

Frankfurt am Main

Bildungsstätte Anne Frank zeigt Chancen und Risiken von KI

Mit einem neuen Sammelband will sich die Institution gegen Diskriminierung im digitalen Raum stellen

von Greta Hüllmann  19.04.2024