Erinnerung

Irrgarten der Gefühle

Frühling in Berlin. Es ist einer dieser ersten hellen Tage, die jedes Jahr aufs Neue die graue Stadt in freundliches Licht tauchen. Ein Licht, das Berlin lieblich aussehen lässt und den Anschein erweckt, die Stadt trage nicht schwer an ihrer schrecklichen Vergangenheit. Im Gegenteil, an solchen Tagen strotzt Berlin vor jugendlicher Kraft, und der Besucher wird das Gefühl nicht los, die Stadt versuche ihm klarzumachen, dass sie vor allem eines habe: viel, viel Zukunft.

unbefangen An zahlreichen Orten in der Mitte Berlins sind zumeist junge Menschen unterwegs. Modisch gekleidet, mit coolen Sonnenbrillen im Gesicht schlendern sie durch Straßen und über Plätze, unterhalten sich und lachen, laut und unbefangen. Auch am Holocaustmahnmal, dessen Eröffnung sich dieser Tage zum fünften Mal jährt, sieht man vor allem Jugendliche. »Ältere kommen vergleichsweise wenige hierher. Sie haben die Zeit miterlebt und wollen nichts davon wissen«, sagt Inge Borck. Auch sie hat die Zeit miterlebt. Doch anders als die meisten kommt die alte Dame, die ungern über ihr Alter spricht, von der Vergangenheit nicht los. Schon oft war sie hier am »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«, wie der Ort offiziell heißt. Bestimmt fünf, sechs Mal im Jahr, mitunter auch häufiger. »Wenn ich hier langgehe, und es kommen die Gedanken an die grausame Zeit, dann habe ich das Gefühl, meine Eltern, sämtliche Freundinnen und alle Verwandten, die ich in der Schoa verloren habe, sind hier begraben, und ich bin ihnen ganz nah.«

An diesem Frühlingstag hat sich Inge Borck wieder auf den Weg zum Denkmal gemacht. Zaghaft schreitet sie zwischen den grauen Betonstelen entlang. Immer wieder muss sie sich das blondierte schulterlange Haar zur Seite streichen, das ihr der Wind ins Gesicht weht. Dort, wo die Stelen am höchsten sind, bleibt sie stehen. »Dieser Ort trifft meine Seele am meisten«, sagt sie, »er hat etwas von Enge, Zwang und Ausweglosigkeit.« Ihrem Gesicht ist dieses Gefühl anzusehen.

eingeschüchtert Auch Vadim Becker ist heute zum Holocaustmahnmal gekommen. Der 17-Jährige, ein stämmiger, hochgewachsener junger Mann, Basketballer beim DBV Charlottenburg, ist Zuwanderer und gehört wie Inge Borck der Berliner jüdischen Gemeinde an. Er besucht die Gedenkstätte zum zweiten Mal. Auch ihn bewegt die tiefste Stelle am meisten. »Hier fühle ich mich klein und eingeschüchtert«, sagt er. »Die Leute damals in den Lagern, die waren ebenso eingeschüchtert. Aber ich kann an jeder Seite raus, die Gefangenen konnten das nicht.«

Vielleicht mag das eine der Intentionen dieses architektonischen Meisterwerks von Peter Eisenman sein: sich klein zu fühlen, in sich zu gehen. Und sich zu verlaufen in diesem Irrgarten der Gefühle? Bei Jugendlichen ist das Feld mit den 2.711 Betonstelen als Labyrinth beliebt und als Ort für Mutproben. Immer wieder sieht man junge Leute von Stele zu Stele springen. In einer Ecke spielen ein paar Halbwüchsige Fangen. »Hu!«, schreien die Jungen, und die Mädchen stieben auseinander. Sie kreischen in Tonlagen, die auf dem ganzen Platz zu hören sind. Inge Borck zieht die Stirn in Falten. »Es tut mir weh, wenn sie hier spielen und über die Stelen springen«, sagt sie. »Ich glaube, die wissen nicht, was sie tun.«

Verständnis Vadim Becker kann verstehen, dass dieser Anblick Überlebende stört. »Es ist ein bisschen respektlos«, sagt er. Doch hat der junge Mann ebenso für seine Altersgenossen Verständnis. »Irgendwie ist es auch okay, wenn sie spielen«, wendet er ein. Es sei ihre Entscheidung. »Vielleicht wissen sie nicht, was das Denkmal bedeutet.« Als Becker vor vier Jahren das erste Mal hier war, sei er auch zwischen den Stelen herumgerannt, gibt er zu. »So ein riesiger Platz lädt Kinder dazu ein.«

Weil das Denkmal sich nicht selbst erklärt, haben es die Initiatoren um eine vermittelnde Ausstellung ergänzt, den sogenannten Ort der Information. Er soll den Besuch im Stelenfeld begleiten und möglicher Ratlosigkeit begegnen. Ob die Väter und Mütter des jahrelang heftig umstrittenen Projekts wirklich damit gerechnet haben, dass so viele Jugendliche das Mahnmal derart unbedarft und ahnungslos in Besitz nehmen würden?

Inge Borck ist davon überzeugt, dass niemand, der den Ort der Information gesehen hat, es fertigbringt, das Mahnmal als Spielplatz zu benutzen. Nach Angaben des Förderkreises »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« haben seit der Eröffnung im Mai 2005 etwa zwei Millionen Besucher den Ort der Information besucht. Zum Mahnmal kamen in dieser Zeit rund acht Millionen Menschen. Dies sind Schätzungen. Denn wer wollte all die Besucher zählen, die Tag und Nacht über das frei zugängliche Stelenfeld gehen?

kellerräume Vadim Becker gehört zu jenen jungen Menschen, die noch nie im Ort der Information gewesen sind. An diesem sonnigen Tag steigt er zum ersten Mal hinab in jene vier dunklen Kellerräume, die mit Zahlen, Fakten, Biografien und Schicksalen darüber aufklären, woran das Denkmal erinnert. Am meisten interessiert ihn der zweite Raum, den die Stelen des Feldes von oben durchdringen. Hier werden 15 Lebensgeschichten gezeigt – stellvertretend für das Schicksal vieler jüdisch-europäischer Familien.

Etliches von dem, was Vadim Becker hier sieht, weiß er bereits. Erst vor wenigen Wochen war er mit seiner Klasse – er geht auf die Jüdische Oberschule – in Israel. Dort haben sie die Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem besucht. Der Ort der Information erinnere ihn daran, sagt er.

vorfahren Beckers Familie ist vor zwölf Jahren aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Der junge Mann weiß wenig über seine Vorfahren, doch so viel, dass weder die Großeltern noch andere Verwandte Schoaüberlebende sind. Ob sie in der Roten Armee gekämpft haben? »Keine Ahnung.« Warum nicht? »Es hat sich nie eine passende Gelegenheit gefunden, meine Eltern danach zu fragen.« Vadim Becker gehört nicht zu jenen Jugendlichen, die sich sehr für Geschichte interessieren. Aber manchmal, wenn er durch Berlin geht, versucht er sich vorzustellen, wie es war, als Juden um ihr Leben fürchteten, weil sie jederzeit aufgegriffen und verschleppt werden konnten.

Inge Borck denkt immerzu an diese grauenvolle Zeit. Öfter als ihr lieb ist. Denn mit dem Alter häufen sich die finsteren Gedanken. Sie hat als junges Mädchen mit viel Glück und der Hilfe weniger Menschen den Holocaust in Verstecken in Berlin und dem Umland überlebt. »Als die Gestapo kam, war ich nicht zu Hause«, erzählt sie mit gebrochener Stimme. An jenem Tag 1942 rief ihre Mutter an: »Bleib, wo du bist. Sie sind da.« Seitdem hat Inge Borck die Stimme der Mutter nie mehr gehört. Wenige Wochen später erhielt sie ein letztes Lebenszeichen – eine Postkarte aus Auschwitz.

Die alte Dame sitzt auf einem Stuhl im Schatten und blickt hinüber zum Stelenfeld. »Nach dem Holocaust mein Leben anzunehmen, das war der schwerste Kampf«, sagt sie. »Ich habe versucht, das Beste daraus zu machen. Aber ich kann nicht vergessen, und ich will es auch nicht. Die Wunden sind nicht verheilt, sie werden wohl für immer bleiben.«

Im Zentrum Für jemanden wie Inge Borck, die in Berlin geboren wurde und hier überlebt hat, ist diese Stadt übersät mit Denkmalen. Viele Straßen und Plätzen erinnern sie an schlimme Momente. Der wichtigste Gedenkort sei das Holocaustmahnmal, sagt sie. Über zwölf Jahre lang hat sie im Förderkreis an der Seite von Initiatorin Lea Rosh mitgearbeitet. Dass das Denkmal in der Mitte der Hauptstadt steht, nur wenige Schritte von Berlins Pracht- und Flaniermeile Unter den Linden entfernt und fast direkt neben dem Brandenburger Tor, ist für Inge Borck folgerichtig. Vom Zentrum dieser Stadt aus wurde die Vernichtungsmaschinerie gesteuert.

Inzwischen ist das Mahnmal aus der Stadt nicht mehr wegzudenken. »Die Menschen nehmen es an«, sagt Inge Borck. Doch eines ärgert sie: Dass manche Tourismusexperten es inzwischen als Sehenswürdigkeit vermarkten. Dies verfehle den Sinn.

Vadim Becker stört sich daran kaum, sondern sieht es pragmatisch: »Wenn dadurch viele Besucher kommen und ihnen erzählt wird, worum es bei dem Mahnmal geht, finde ich das okay.«

Es mag taktlos sein, eine Gedenkstätte, die an den Mord von sechs Millionen Menschen erinnert, als touristische Sehenswürdigkeit zu bezeichnen. Des Sehens wert jedoch sollte der Ort allen sein. Der Opfer und der Zukunft wegen.

Georg M. Hafner

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