Mizwot

Geht nicht gibt’s nicht

Fußball ist wie das richtige Leben: Die wahre Herausforderung ist, das Ziel (Abb.: Torschuss zum 0:1 im EM-Finale 2008, Deutschland–Spanien) zu erreichen, auch wenn andere einen daran hindern wollen. Foto: dpa

Vielen von uns fällt es schwer, die »ganze Tora« zu halten. So hört man sehr oft Aussagen wie diese: »Ich achte eigentlich alle Mizwot, doch das mit der Kaschrut schaffe ich nicht. Aber ich bin doch trotzdem ein guter Jude.« Jeder hat seine Schwächen. Zweifellos kann sich keiner an alles halten. Doch gilt man trotzdem als guter Jude, auch wenn man nicht alle Gebote befolgt?

Talmud Im talmudischen Traktat Eruvin wird eine sehr komplizierte Frage diskutiert: Ist es für den Menschen besser, dass er erschaffen wurde, oder wäre es nicht besser, er wäre nie erschaffen worden? Der Talmud berichtet, dass sich darüber zwei der größten Schulen der damaligen Zeit, Beit Schammai und Beit Hillel, gestritten haben. Und zwar zweieinhalb Jahre lang. Am Ende wurde abgestimmt. Sie kamen zu dem Schluss, dass es für den Menschen tatsächlich besser wäre, nie erschaffen worden zu sein. Doch da er nun einmal bereits erschaffen wurde, müsse er seine eigenen Taten untersuchen, »epaschpesch bemaasaw wejimaschmesch bemaasaw«.

Rabbiner Mosche Chaim Luzatto erklärt in seinem Buch Mesilat Yescharim (Der Weg der Frommen), warum der Talmud an dieser Stelle zwei Begriffe benutzt, die auf den ersten Blick dieselbe Bedeutung zu haben scheinen. Er vergleicht es mit einem Kleidungskauf. Wenn jemand einen Laden betritt, um sich ein Kleidungsstück auszusuchen, sieht er sich als Erstes alle Kleider an und unterscheidet dann erst, die nicht infrage kommen, von denen, die ihm gefallen. Die betrachtet er genauer. So befühlt er zum Beispiel jedes einzelne Kleidungsstück mit seinen Fingern, um herauszufinden, ob es ein guter Stoff ist.

Rabbiner Luzatto meint, dass der Talmud von uns verlangt, ebenso mit unseren Taten umzugehen. Als erstes sollen wir zwischen guten und schlechten Taten unterscheiden (jepaschpesch). Doch damit nicht genug. Nachdem wir sie unterteilt haben, sollen wir die guten Taten – so wie man die Kleidungsstücke anfühlt – untersuchen. Dabei sollen wir darauf achten, aus welchem Stoff sie gemacht sind, also mit welchen Absichten und Motiven man diese gute Taten verrichtet hat (jemaschmesch).

Kommentar Es gibt aber noch einen anderen Kommentar, nämlich den des Gaon von Wilna (Rabbiner Elijah Ben Salomon Salman, 1720–1797). Dieser wirft ein ganz neues Licht auf die Talmudpassage. Er stellt nämlich die Frage, wie es sein kann, dass G’tt, der in Seiner ganzen Essenz gut ist und per Definition nur Gutes tut, dem Menschen ein Missgefallen getan hat, indem er ihn erschuf. Will der Talmud uns wirklich vermitteln, dass es für Milliarden von Menschen, die seit der Welterschaffung die Erde gefüllt haben, schlecht gewesen sei, erschaffen worden zu sein? Und wie genau rechtfertigt diese »Untersuchung unserer Taten« unsere Existenz? Wäre es nicht viel besser zu sagen, dass wir jetzt G’ttes Willen, Seine Gebote, erfüllen müssen, um unsere Existenz zu rechtfertigen?

Deswegen meint der Gaon von Wilna, dass beide talmudischen Schulen sich einig waren: G’tt habe dem Menschen etwas wirklich Gutes angetan, indem er ihn erschaffen hat. Der Streit zwischen Beit Schamai und Beit Hillel handele vielmehr von der Wiedergeburt, also der Reinkarnation der Seelen. Die eine Meinung besagt, dass es für eine Seele gut ist, mehrmals in diese Welt zu kommen, weil sie jedes Mal G’ttes Willen erfüllen kann. Die andere Meinung besagt, dass es für eine Seele besser sei, bereits beim ersten Mal in dieser Welt ihre Aufgabe zu erfüllen und nicht wiederzukehren. Nach der langen Diskussion stimmten sie darin überein, dass es tatsächlich für eine Seele besser sei, nur einmal in diese Welt zu kommen und sofort ihre Aufgabe hier zu erfüllen. Doch wenn sie bereits mehrmals in dieser Welt gewesen ist, müsse ihr Besitzer, der Mensch, seine Taten genaustens untersuchen.

Sinnfrage Diese Antwort, so der Gaon von Wilna, hilft uns, die wichtigsten Fragen in unserem Leben zu beantworten. Nämlich die Fragen: »Was mache ich hier?«, »Was ist meine Aufgabe in dieser Welt?«, »Warum wurde meine Seele eventuell wieder in diese Welt geschickt, und was war ihr Vergehen im letzten Leben?«. Mit anderen Worten: »Woran muss ich arbeiten, um meine Seele zu reinigen?« Natürlich werden die meisten sagen, dass diese Fragen nicht zu beantworten sind. Doch der Gaon von Wilna war anderer Auffassung. Er meinte, es könnte nicht sein, dass G’tt uns in diese Welt schickt, ohne uns wenigstens anzudeuten, was unsere Aufgabe hier ist.

Doch wie erfahren wir sie? Indem wir unsere Taten untersuchen. Wenn wir unsere Taten genau untersuchen und eine bestimmte Schwäche bei uns finden, irgend- einen Punkt, an dem wir immer versagen. Dann können wir davon ausgehen, dass genau daran unsere Seele in ihrem vorherigen Leben gescheitert ist, und dass die Korrektur genau dieses Punktes der Grund dafür ist, warum sie wieder in diese Welt zurückgeschickt wurde. Ironischerweise ist das auch genau der Grund, warum die Seelen sehr oft wiederholt versagen und mehrmals zurückkehren müssen.

Und so treffen wir häufig sehr gerechte Menschen, die aktiv ihr Judentum ausüben, sich am Gemeindeleben beteiligen, viel Zedakka (Almosen) geben und stets bereit sind, ihrem Nächsten zu helfen und sich für ihn einzusetzen. Doch auch sie haben eine »kleine« Schwäche, zum Beispiel ihr aufbrausendes Temperament. Sie sind sich dieser Schwäche bewusst und wissen genau, dass ihr Verhalten oft nicht angebracht ist. Es tut ihnen auch leid, dass sie sich hin und wieder anderen Menschen gegenüber aggressiv und unbeherrscht verhalten. Doch dann sagen sie sich: »Was soll’s: Nobody is perfect. Dank meiner an-
deren Verdienste bin ich doch immer noch sehr gut dran.«

Sie mögen zwar vollkommen recht haben. Und ohne Zweifel haben sie auch viele andere gute Taten vollbracht. Doch besteht die große Gefahr, dass sich ihre Seele nur wegen dieser einen Schwäche in dieser Welt befindet. Und wenn sie dieses vernachlässigt, verpasst sie ihr Ziel.

Fussball Es gibt über den Jerusalemer Maggid, Rabbiner Schalom Schwadron (1912–1997), eine interessante Geschichte, die diesen Punkt noch stärker verdeutlicht. Einst bemerkte er, dass einer seiner besten Schüler in der Jeschiwa seit mehreren Tagen fehlte. Als der Schüler ins Lehrhaus zurückkehrte, fragte ihn der besorgte Rabbiner nach dem Grund seines Fehlens. Er kannte den Jungen schon mehrere Jahre, selbst im Krankheitsfall hatte er noch nie mehrere Tage den Unterricht versäumt. Also musste et-was Schlimmes passiert sein. Der Junge sah, wie besorgt der Rabbiner war. Dennoch wollte er nichts sagen, denn er befürchtete, nicht verstanden zu werden. Schließlich, so dachte er, habe der Rabbiner nicht viel Ahnung von weltlichen Dingen. Doch schließlich räumte er ein: »Ich habe wegen eines Fußballturniers gefehlt. Ich musste es unbedingt sehen, da meine Lieblingsmannschaft auf dem Feld stand.« Überraschenderweise schien Raw Schwadron weder böse noch beeindruckt zu sein. Er sagte: »Wenn du für dieses Spiel den Unterricht in der Jeschiwa verpasst hast, muss es ein sehr wichtiges Spiel gewesen sein. Erkläre mir doch bitte die Regeln des Spiels, damit ich weiß, worum es dabei geht.«

So fing der Junge an zu erzählen: »Es gibt zehn Feldspieler und einen Torwart. Das Ziel des Spiels ist es, den Ball in das gegnerische Tor zu schießen.« Daraufhin sagte der Raw: »Es ist doch ganz einfach. Geh, schieß den Ball ins gegnerische Tor und komm zurück zum Lernen.« Der Junge lachte: »Nein Rebbe, Sie haben nicht verstanden. Es gibt doch auch eine gegnerische Mannschaft, auch die hat elf Spieler. Also ist das Ganze nicht so einfach.« »Aber sind denn diese Gegner dort den ganzen Tag und die ganze Nacht?«, fragte der Rabbiner. »Natürlich nicht«, antwortete der Schüler, »nachts gehen sie nach Hause zum Schlafen.« Der Rabbiner entgegnete: »Dann gehe doch nachts dorthin, wenn keiner da ist. Schieß den Ball ins gegnerische Tor und komm am Morgen zurück zum Lernen.« Der Junge sprang auf: »Aber Rebbe, es ist doch keine Kunst, den Ball ins Tor zu schießen, wenn keiner da ist. Die wahre Herausforderung ist, ein Tor zu erzielen, wenn man dich daran hindert.« »Genauso ist es mit dem Lernen«, erwiderte der Rabbiner. »Es ist keine Kunst zu lernen, wenn es keine Ablenkungen gibt. Versuche stattdessen, mal konzentriert zu lernen, während deine Lieblingsmannschaft das Finale spielt. Das ist die Kunst.«

Genauso ist es mit allen unseren Taten: Es ist einfach, sich an etwas zu halten, das einem leicht fällt. Die Kunst liegt darin, die Schwierigkeiten zu überwinden.

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