Integration

Generation Moskau

Mustermigrantin: MTV-Moderatorin Palina Rojinski wurde in Leningrad geboren und kam mit sechs Jahren nach Berlin. Foto: Stephan Pramme

Möchte jemand bei einer öffentlichen Stellungnahme Aufmerksamkeit erregen, braucht er, ganz gleich, welche Meinung er vertritt, nur auf die Reizwörter »Migranten«, »Integration«, »Asyl« und »Zuwanderung« zurückzugreifen und diese mit ein paar weiteren Reizwörtern – zum Beispiel »Islam« und »Kriminalität« – zu kombinieren. Ob in Zeiten des Wohlstands oder der Wirtschaftskrise, des Friedens oder des Afghanistankrieges, das Ausländerthema zieht immer. Es gilt dasselbe wie für den Nahostkonflikt: Jeder hat eine Meinung, und jeder Zweite glaubt, ein Experte zu sein.

unauffällig Eine Gruppe, über die in diesem Zusammenhang vergleichsweise wenig gesprochen wird, sind die jüdischen Kontingentflüchtlinge. Diese »Milde« hat nichts oder nur zu einem geringen Teil damit zu tun, dass es sich um Juden handelt. Auch Kontingentflüchtlinge sind mit Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit konfrontiert. Angehörige anderer Migrantengruppen, zum Beispiel Moslems, entsprechen jedoch viel stärker dem zurzeit in unserer Gesellschaft vorherrschenden Feindbild. Wären die russisch-jüdischen Zuwanderer mehrheitlich ultraor thodox, lebten sie in einer archaischen Gegenwelt zur Moderne, wie in Teilen Brooklyns, wo Männer mit Pelzmützen und schwarzen Mänteln und Frauen mit Perücken das Straßenbild prägen, sähe die Sache anders aus. Die meisten Kontingentflüchtlinge aber waren in der Sowjetunion an die russische Kultur assimiliert und definierten ihre jüdische Identität nicht religiös, sondern allenfalls historisch, als Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft. In Deutschland sind diese Migranten in erster Linie durch ihren russischen Akzent und Tonfall, nicht aber durch ein »abweichendes Verhalten« auffällig. Es gibt Einheimische, die nicht einmal wissen, dass es nach der Wende eine jüdische Zuwanderung nach Deutschland gegeben hat.

hauch der fremde Was über die Kontingentflüchtlinge der ersten Generation gesagt wurde, gilt im Wesentlichen auch für deren Kinder. Die heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen haben meist schon das deutsche Schulsystem durchlaufen, ein Studium oder eine andere Form der weiterführenden Ausbildung gemacht und sich weitgehend in die deutsche Gesellschaft integriert. Damit entsprechen sie jenem Bild der »anständigen und braven« Migranten, dessen sich rechte Politiker gerne bedienen, wenn sie ihre Ausländerfeindlichkeit zu verschleiern versuchen. Gleichzeitig strahlen die »jungen Russen« durch ihre Herkunft, ihre Mehrsprachigkeit und ihre Teilhabe an einer anderen (nämlich der russischen, in selteneren Fällen der jüdischen) Kultur jenen Hauch der Fremde aus, der liberal denkenden Einheimischen die Illusion verschafft, in einer multikulturellen Gesell- schaft zu leben. Sie irritieren weniger als arbeitslose türkische Jugendliche oder Kopftuch tragende Frauen. Diese gelungene Integration ist jedoch keineswegs der (alles andere als erfolgreichen) »Integrationspolitik« geschuldet, sondern hauptsächlich der Tatsache, dass die Kinder von Kontingentflüchtlingen nicht – wie etwa die Mehrheit der türkischen Gastarbeiterkinder – aus »bildungsfernen« Schichten stammen. Mehr als fünfzig Prozent der jüdischen Zuwanderer sind Akademiker. Den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, gehört bis heute zum Selbstverständnis russischer Juden.

Wurzeln Ob die jungen »Russen« den Kern eines neuen deutschen Judentums bilden? Wahrscheinlich. Zum Wesen und der besonderen Geschichte des Judentums gehört es, dass schon die Herkunft allein Zugehörigkeit schafft und eine emotionelle Bindung über Landes-, Sprach- und Kulturgrenzen ermöglicht. Allerdings wird es ein deutsches Judentum sowjetischer Prägung sein, auch dann, wenn in Zukunft die Kinder der jungen Generation von heute nicht einmal mehr Russisch sprechen werden. Für Angehörige einer Minderheit ist es leichter, kulturelle und religiöse Wurzeln zu verlieren und sich an die Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren, als die verlorenen Wurzeln einige Generationen später wiederzufinden. Die Großeltern der heutigen Kontingentflüchtlinge hatten die Kleinstädte und Dörfer Weißrusslands und der Ukraine verlassen und waren in die Großstädte des Sowjetimperiums gezogen. Ihre Bereitschaft, Überkommenes aufzugeben und sich zu assimilieren, wurde von den kommunistischen Machthabern mit guten Aufstiegschancen und einem besseren Leben belohnt. Die Erinnerung an diese Zeit ist (oftmals unbewusst) tief im kollektiven Gedächtnis der Kontingentflüchtlinge verankert: Kulturelle und sprachliche Integration führen zum Erfolg; Glaube und religiöse Traditionen sind hinderlich. Gleichzeitig zeigen die Verfolgungen und Diskriminierungen von Juden unter Stalin und seinen Nachfolgern, dass vollständige Assimilation keine Erfolgsgarantie darstellt. Diese ambivalente historische Erfahrung führt zum prekären Bewusstsein, auch dann außerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu bleiben, wenn man mit viel Fleiß und Anpassungswillen zu einem Teil davon geworden ist.

ambivalenz Deutschland versteht sich nicht als Einwanderungsland. Kindern russisch-jüdischer Emigranten, die in andere Länder ausgewandert sind, fällt es sicher leichter, sich als Israelis, Amerikaner oder Kanadier zu fühlen. In Deutschland wird zwar hin und wieder vom kulturellen Mehrwert einer Mehrfachidentität geredet, die Vielfalt kultureller Zugehörigkeiten und historischer Erfahrungen wird jedoch noch keineswegs als selbstverständliches Merkmal einer modernen Gesellschaft angesehen. Junge Migranten, denen suggeriert wird, ihr Anderssein werde bestenfalls toleriert, sie würden – egal, wie sie sich verhalten – nie zur Gänze dazugehören, vielmehr sei ihre Existenz die Ausnahme von der Regel, tendieren dazu, die Prägungen und Ängste ihrer Eltern zu übernehmen und in die Zukunft zu tragen. Um die Identifikation mit der nichtjüdischen Umgebung bei gleichzeitiger Distanz und latenter Angst ertragen zu können, sucht jeder seinen eigenen Weg. Die meisten haben gelernt, die Ambivalenz ihrer Identität anzunehmen, zumal sie seit ihrer Kindheit ohnehin nichts anderes kennen. Einige definieren ihr Judentum neu und kehren nach einem säkularen Zwischenspiel von drei Generationen zur Religion zurück, andere versuchen, ihre jüdisch-russische Herkunft völlig zu verdrängen und zu »richtigen« Deutschen zu werden. Die Allerwenigsten jedoch möchten an die historischen Traditionen des deutschen Judentums vor 1990 anknüpfen. Nur wenige identifizieren sich mit den »alten« deutschen Juden oder versuchen, in der Auseinandersetzung oder Verbindung mit ihnen, etwas ganz Neues zu schaffen. Das wird vielleicht erst in der nächsten Generation erfolgen.

Vladimir Vertlib, 1966 in Leningrad geboren, emigrierte mit seiner Familie 1971. Er lebt als Schriftsteller in Salzburg. Zuletzt erschien von ihm der Roman »Am Morgen des zwölften Tages« (Deuticke, Wien 2009, 558 S., 24,90 €)

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  28.03.2024

Sachbuch

Persönliches Manifest

Michel Friedman richtet sich mit seinem neuen Buch »Judenhass« bewusst an die allgemeine Öffentlichkeit, er appelliert aber auch an den innerjüdischen Zusammenhalt

von Eugen El  28.03.2024

USA

Daniel Kahneman ist tot

Der Wissenschaftler Daniel Kahneman kombinierte Erkenntnisse aus Psychologie und Ökonomie

 28.03.2024

Bildung

Kinderbuch gegen Antisemitismus für Bremer und Berliner Schulen

»Das Mädchen aus Harrys Straße« ist erstmals 1978 im Kinderbuchverlag Berlin (DDR) erschienen

 27.03.2024

Bundesregierung

Charlotte Knobloch fordert Rauswurf von Kulturstaatsministerin Roth

IKG-Chefin und Schoa-Überlebende: »Was passiert ist, war einfach zu viel«

 26.03.2024

Kultur

Über die Strahlkraft von Europa

Doku-Essay über die Theater-Tour von Autor Bernard-Henri Levy

von Arne Koltermann  26.03.2024

Projekt

Kafka auf Friesisch

Schüler der »Eilun Feer Skuul« in Wyk auf Föhr haben ihre friesische Version des Romans »Der Verschollene« vorgestellt

 25.03.2024

Berlin

Hetty Berg als Direktorin des Jüdischen Museums bestätigt

Ihr sei es gelungen, die Institution »als Leuchtturm für jüdisches Leben« weiterzuentwickeln, heißt es

 25.03.2024

Judenhass

Wie der Historikerstreit 2.0 die Schoa relativiert

Stephan Grigat: Der Angriff auf die »Singularität von Auschwitz« kommt nun von links

 25.03.2024