Ausblick

»Die fetten Jahre sind vorbei«

Was bringt die Zukunft? Foto: imago

Generationswechsel, Integration und Finanzen. Diese drei Stichwörter stehen für die Aufgaben, die die jüdischen Gemeinden im neuen Jahrzehnt zu bewältigen haben. In der östlichen Ruhrgebietsgemeinde Dortmund ist der Generationswechsel mit dem Stichtag 1. Januar bereits vollzogen. Alexander Sperling heißt der neue Geschäftsführer, vor dem ein Jahr der Bewährung steht. Er will sich vor allem weiter um den Ausbau des renovierten Jugendzentrums und der Nachmittagsschule kümmern. Die Mikwe soll eröffnet werden, die in ein Nebengebäude des jüdischen Kindergartens integriert wurde. »Ein Ritualbad gehört einfach zu einer Groß-Gemeinde mit 3.600 Mitgliedern. Die Menschen, die religiös und ohnehin in der Gemeinde aktiv sind, freuen sich darauf. Neue Leute wird uns das aber wohl nicht bringen«, erklärt Sperling. »Wir gehen davon aus, dass die Mitgliederzahl gleich bleibt.« Auf ein Wachstum sei man in Dortmund auch nicht unbedingt aus. »Wir wollen festigen, nicht wachsen. Die Mitglieder, die da sind, wollen wir an die Gemeinde binden, und dafür haben wir nun die besten Voraussetzungen.«

Im westlichen Teil des Reviers geht 2010 eine Ära zu Ende. Der Vorstandsvorsitzende Jacques Marx wird sich nach 38 Jahren im Dienst der Gemeinde Duisburg/Mülheim/Oberhausen nicht mehr zur Wiederwahl stellen. »Es wird – ganz wertungsfrei – einfach anders«, sagt Geschäftsführer Michael Rubinstein. Am 7. Februar wird der Gemeinderat gewählt, 20 Kandidaten bewerben sich auf neun Plätze. Der Vorstand wird dann schwere Entscheidungen zu treffen haben. »Die Knappheit in den öffentlichen Kassen geht auch an uns nicht vorbei. Wir müssen gleichzeitig sehen, dass wir unser Angebot möglichst aufrechterhalten, aber auch schmerzliche Einsparungen vornehmen«, erklärt Rubinstein. »Die fetten Jahre sind vorbei.« Man wolle sich nun auf die Kernaufgaben einer Gemeinde konzentrieren. »Es wird wieder stärker um die jüdischen Inhalte gehen, um die Menschen zu ihrer jüdischen Identität zurückzuführen.«

Atempause Das ist auch eine Hauptaufgabe, die sich die Frankfurter Gemeinde für das Jahr 2010 stellt. Das Thema Integration steht bei ihr weit oben auf der Prioritätenliste. Auch die Frankfurter müssen verkraften, dass die Zuwanderung aus den ehemaligen Sowjetrepubliken deutlich nachge- lassen hat. Aus Sicht von Vorstandsmitglied Benjamin Bloch kann das aber auch ein Vorteil sein. Die Gemeinde erhält dadurch eine Atempause: »So bekommen wir die Möglichkeit, unsere bestehenden Angebote weiter auszubauen.«

»Stabilisierung« ist eines der Stichwörter, die Bloch in diesem Zusammenhang häufig gebraucht. Darunter versteht er vor allem die Einbindung derjenigen Zuwanderer, die bislang von den verschiedenen Bildungs- und Kulturangeboten der Gemeinde nicht erreicht wurden. Außerdem soll die Grundschule und das Gymnasium im Philanthropin ausgebaut werden. Ganz wichtig ist Bloch auch die Arbeit mit jungen Erwachsenen. »Uns muss es gelingen, die 18- bis 35-Jährigen zu aktivieren.«
Rund 30 Kilometer mainabwärts beurteilt man die Situation ganz ähnlich. »Wir brauchen diese Möglichkeit zur Stabilisierung und Koordinierung«, erklärt Jakob Gutmark vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden. Die 750 Mitglieder zählende Gemeinde setzt dabei vor allem auf Kultur. Nichts anderes bedeutet der Name »Tarbut«, den die seit 2008 stattfindende Veranstaltungsreihe der jüdischen Gemeinde Wiesbaden trägt. Ursprünglich als Extraveranstaltung zum 60. Jahrestag der israelischen Staatsgründung konzipiert, erfreut sich das gemeinsam mit der Stadt Wiesbaden aufgelegte Programm mittlerweile solch großer Beliebtheit, dass auch für 2010 eine Neuauflage geplant ist. Das Ziel, die Wiedersichtbarmachung jüdischen Lebens in der hessischen Landeshauptstadt, soll dabei wieder im Mittelpunkt der Lesungen, Filmvorführungen und Ausstellungen stehen. »Wir wolllen möglichst das ganze Spektrum jüdischer Kultur zeigen. Es geht um Kultur jenseits des Holocaust«, erklärt Gutmark.

jubiläumsfeier Auch die Jüdische Gemeinde Chemnitz sieht einem kulturellen Highlight entgegen. Höhepunkt im Veranstaltungskalender ist das 125-jährige Bestehen der Gemeinde. Die Jubiläumsfeierlichkeiten finden im Herbst statt. Wie für viele jüdische Gemeinden ist auch für die Chemnitzer Integration ein Dauerthema.

Auch im Jahr 2010 bleibt die Jugendarbeit eine zentrale Aufgabe. Eine jüdische Kindergartengruppe soll entstehen, außerdem soll der Austausch mit den Gemeinden Leipzig und Dresden im Bereich der Jugendarbeit weiter vertieft werden.

In Dresden bereitet sich die Jüdische Gemeinde zunächst auf Unerfreuliches vor: auf den 65. Jahrestag der Bombardierung der Elbestadt am 13. Februar. Dieses Datum zieht Jahr für Jahr tausende Rechtsextreme in die Stadt. »Gemeinsam mit den demokratischen Kräften Dresdens will die Jüdische Gemeinde ein Zeichen gegen die Vereinnahmung des Gedenktages durch die Rechten setzen«, so Gemeindegeschäftsführer Heinz Joachim Aris.
Jung und alt Die Jugendarbeit ist auch an der Elbe ein Schwerpunkt. Aris ist zuversichtlich, dass sich in diesem Jahr das neue Jugendzentrum und die Sonntagsschule etablieren. Aber auch für die älteren jüdischen Bürger wird die Gemeinde aktiv. »Wir wollen verstärkt Plätze für betreutes Wohnen anbieten«, erklärt Aris. Die älteren Menschen, die fast ausschließlich aus Osteuropa stammen, sollen in Dresden ihren Lebensabend in einer Gemeinschaft verbringen können.

Das Geld für Projekte ist angesichts der Finanzkrise auch in Dresden knapp. Heinz Joachim Aris appelliert daher an die Gemeindemitglieder, mehr Eigenleistung zu erbringen: »Man kann nicht alles von außen bekommen wollen. Wir müssen den Blick auch auf uns selbst richten.«

Geld ist auch das Stichwort für die jüdische Gemeinde in Schwerin. In Mecklenburg-Vorpommern geht es darum, einen neuen Staatsvertrag abzuschließen. Für das nächste Jahr hofft man »etwas mehr Geld zu bekommen«, noch sei es aber noch zu früh, um konkret zu werden, sagt Gemeindevorsitzender Valeriy Bunimov. Er wünscht sich, mehr Möglichkeiten für kulturelle und soziale Arbeit zu haben. Darüber hinaus erschwere die demografische Situation der Gemeinde die Arbeit. Mehr ältere Mitglieder zu haben, bedeute mehr Unterstützung bieten zu müssen. In Schwerin werden diese Arbeiten von ehrenamtlichen Kräften erledigt, »denen wir gerne eine kleine finanzielle Anerkennung zukommen lassen würden«, sagt Bunimov.

»Wir haben in diesem Jahr keine festen Daten oder Termine, aber zwei große Ereignisse«, sagt Juri Rostov, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Rostock. Gerade sammelt man Geld für eine neue Torarolle, die im Herbst feierlich eingebracht werden soll.

»Ich bin sehr beeindruckt, dass so viele Gemeindemitglieder gespendet haben, früher mussten wir auf Hilfe von außerhalb hoffen, nun sind auch von denen, die selbst nicht viel haben, viele kleine Beträge eingegangen.« Ein weiteres Thema des Jahres 2010 wird in Rostock die Renovierung von Synagoge und Gemeindesaal sein, »mit Hilfe des Zentralrats der Juden in Deutschland und des Ministeriums für Bildung und Kultur«, wie Rosov betont, »und dann wird ein großes Fest geben, mit dem die Ankunft der neuen Torarolle und die Renovierung gefeiert werden.«

Eine neue Schriftrolle möchte man auch in Kiel kaufen, wie der Gemeindevorsitzende Igor Wolodarski berichtet. Gleichzeitig macht man sich Sorgen, »denn unser Gebäude ist sanierungsbedürftig, ein Drittel des Gemeindehauses kann nicht benutzt werden.«

Igor Wolodarski, der auch Vorsitzender des Landesverbandes Lübeck, Kiel Region und Flensburg ist, denkt in größeren Schritten. Der Aufbau eines Kindergartens oder gar einer Schule ist ein großer Traum. Mit den knappen Mitteln wäre dieses Ziel allerdings kaum zu erreichen, sagt Wolodarski. »Unsere Pläne hängen davon ab, wie sich die Förderung des jüdischen Lebens in Schleswig-Holstein weiterentwickelt.«

von Karin Vogelsberg, Zlatan Alihodzic, Danijel Majic und Elke Wittich

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