Porträt der Woche

Der Bewahrer

Anton Jakob Weinberger ist Journalist und pflegt das jüdische Erbe seiner Stadt

von Eugen El  08.10.2018 19:58 Uhr

Anton Jakob Weinberger Foto: Rafael Herlich

Anton Jakob Weinberger ist Journalist und pflegt das jüdische Erbe seiner Stadt

von Eugen El  08.10.2018 19:58 Uhr

Geboren wurde ich 1949 in einem DP-Lager in Feldafing. Meine Eltern kamen 1946 aus Rumänien. Sie haben die Schoa dort überlebt, ein Großteil der Familie jedoch wurde ermordet. Im Sommer 1950 sind wir in das DP-Lager Föhrenwald umgesiedelt worden. Dort blieben wir bis 1956. Wir wollten eigentlich nach Amerika auswandern. Dazu ist es nicht gekommen. Denn wir zogen nach Frankfurt am Main.

Die deutschen Großstädte haben sich über mehrere Jahre darüber gestritten, ob sie Juden aufnehmen oder nicht. Im Prinzip wollte so gut wie keine deutsche Großstadt, Frankfurt eingeschlossen, die Juden haben. Mitte der 50er-Jahre sagte der damalige hessische Innenminister: »In die nächsten beiden Häuser, die die Nassauische Heimstätte errichtet, kommen Juden aus Föhrenwald.« 1956 waren diese Häuser frei. Sie lagen in der Waldschmidtstraße im Frankfurter Stadtteil Ostend.

Unsere Familie ist aber nicht in die Waldschmidtstraße gezogen, sondern nach Niederrad. Denn meine Mutter sagte: »Ich will in kein Ghetto.« Es war nicht ihre Vorstellung, nur unter Juden zu leben. Meine Mutter stammte aus Czernowitz. Dort gab es kein Ghetto. Es war eine Stadt, die nur aus Minderheiten bestand, und die Juden waren die größte Minderheit. In Czernowitz wohnte die Familie meiner Mutter in einem Haus mit Christen. Es war ein echtes Zusammenleben. Meine Mutter kannte das nicht anders.

feiertage Was bedeutet es für mich, Jude zu sein? Ich sage es mit einem Satz meiner Mutter: »Du bist als Jude geboren, und du wirst als Jude sterben.« Da kann ich nur sagen, sie hat recht. Ich bin in einem orthodoxen jüdischen Elternhaus aufgewachsen – mit allem, was jüdisches Leben ausmacht. Was Orthodoxie anbelangt, kann mir schwer jemand etwas vorerzählen oder vorleben. Wir hatten einen strikt koscheren Haushalt. Alle Feiertage wurden eingehalten.

An Rosch Haschana und Jom Kippur sind wir von Niederrad in die etwa fünf Kilometer entfernte Westend-Synagoge zu Fuß gelaufen – und nach dem Gottesdienst zu Fuß zurück. In der Pubertät wollte ich nicht mehr jeden Freitagabend zu Beginn des Schabbats mit der Familie essen, sondern mich mit Freunden treffen oder in ein Konzert gehen.

Für mich war das Judentum schon relativ früh – als ich anfing, selbstständig zu denken – eine geistige Angelegenheit. Ich habe das nie als nur ein mir von außen verordnetes Ritual angesehen. Ich wollte jüdisches Denken und Leben als geistiges Phänomen betrachten. Mit etwa zwölf Jahren habe ich mich auf die Suche nach entsprechender Literatur gemacht und landete bei Martin Buber. Jüdischsein als ein geistiges Phänomen zu begreifen, ist auch heute noch mein Leitgedanke.

Das hat mich auch dazu gebracht, 1995 die Max Dienemann/Salomon Formstecher Gesellschaft zu gründen. Deren Kern besteht aus meiner Sicht darin, einen Beitrag zur Rekonstruktion dessen zu leisten, was einmal deutsches Judentum war – eine auch im Alltag sehr geistig ausgerichtete Strömung in der Welt der Judenheit.

sprache Ich denke nicht die ganze Zeit über die Frage nach: »Warum bist du hier in Deutschland?« Ich habe kein anderes Land, wo ich hin sollte. Ich bin Deutscher. Was soll ich sonst sein? Meine Eltern wollten bis zu ihrem Tod die deutsche Staatsangehörigkeit nicht annehmen. Aber die deutsche Sprache war für mich ganz entscheidend. Auch das habe ich meiner Mutter zu verdanken. Nachdem wir aus Föhrenwald nach Frankfurt kamen, sagte meine Mutter: »Lern du richtig Deutsch!« Meine Mutter hat mit mir nur Deutsch gesprochen. Wenn meine Eltern mir etwas verheimlichen wollten, sprachen sie Rumänisch miteinander. Erst im DP-Lager begann meine Mutter, Jiddisch zu sprechen.

Von Beruf bin ich Journalist. In Mainz absolvierte ich von 1980 bis 1982 das Aufbaustudium Journalismus. Danach war ich Redaktionsassistent beim ZDF-auslandsjournal. Nach der Zeit dort habe ich festgestellt: Ich bin kein Fernseh-, sondern ein Zeitungsmensch. Ich bewarb mich, und eine der Zeitungen, die mich zum Vorstellungsgespräch einlud, war die »Offenbach-Post«. 1983 bin ich nach Offenbach gekommen.

Bei der Offenbach-Post habe ich alle journalistischen Genres gemacht, außer Sport. Im Oktober 1987 kam ich zur »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. 27 Jahre lang war ich der Offenbach-Korrespondent in der Rhein-Main-Zeitung der FAZ. Im November 2014 bin ich in den Ruhestand gegangen. Als Autor schreibe ich weiter für die FAZ, auch wenn ich nicht im Tagesgeschäft tätig bin.

rabbiner Einen Großteil meiner freien Zeit im Ruhestand widme ich der Arbeit der Max Dienemann/Salomon Formstecher Gesellschaft Offenbach e.V. Sie hat sich im Juni 1995 gegründet. Es waren damals Juden und Nichtjuden, bekannte Offenbacher Persönlichkeiten, die sich zusammengefunden haben, um sich einerseits der Geschichte des deutschen Judentums zu widmen und sich auf der anderen Seite, des aktuellen jüdischen Lebens in Deutschland anzunehmen.

Wir haben mehrere Schwerpunkte. Zum einen verstehen wir uns als ein Forum für das zeitgenössische Judentum – wir bieten immer wieder Diskussionsveranstaltungen und Vorträge an, sei es zu historischen Themen des deutschen Judentums oder zu aktuellen Fragen jüdischen Lebens in Deutschland und im deutschsprachigen Raum.

Wir veranstalten auch Diskussionen zu kontroversen Positionen. Eine der herausragenden Veranstaltungen war im Jahr 1998 eine Podiumsdiskussion mit dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, Professor Micha Brumlik, Professor Julius H. Schoeps und dem liberalen Rabbiner Tovia Ben-Chorin aus Zürich. Die Frage war: »Die Koffer sind ausgepackt – Bildet sich ein neues deutsches Judentum?«.

merkzeichen Ein anderer Schwerpunkt ist das, was wir »Ortserkundungen« nennen. Das heißt, wir versuchen, Merkzeichen im Stadtbild Offenbachs zu setzen, die auf die jüdische Geschichte, ihre Hochzeit, aber auch die Zerstörung jüdischen Lebens in dieser Stadt hinweisen.

Da sind zum Beispiel die Rabbiner-Wege im Büsing-Park – der zentrale Innenstadtpark in Offenbach –, benannt nach den Rabbinern Salomon Formstecher und Max Dienemann und der Rabbinerin Regina Jonas. Das ist ein bundesweit einzigartiges Ensemble, das auf die Höhepunkte deutsch-jüdischer Geschichte verweist. Formstecher war einer der sogenannten Gründungsväter des Reformjudentums im 19. Jahrhundert, Dienemann eine der führenden Persönlichkeiten des liberalen Judentums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und zugleich ein kundiger Talmudist.

Regina Jonas war die erste Rabbinerin in der Geschichte des Judentums überhaupt. Sie wurde am 27. Dezember 1935 durch Rabbiner Dienemann in Offenbach ordiniert. Insofern haben wir hier mehrere Stränge deutsch-jüdischer Geschichte im Verlauf von etwa 125 Jahren zusammengeführt.

afd Insofern ist es aus meiner Sicht eine Provokation für Juden, die Rückgrat und Geschichtskenntnis haben, dass der kleine Trupp von »Juden in der AfD« ursprünglich ausgerechnet in Offenbach seine »Bundesvereinigung« gründen wollte. Unsere Gemeinde hat es nicht verdient, von sich heute rechtsradikal gebärdenden Juden gedemütigt und geschändet zu werden, die in der extremistischen AfD offenkundig ihre »Heimstatt« sehen – gerade angesichts des Wirkens der Gemeinde im Geist der Einheit jüdischen Lebens.

Zu den Merkzeichen, die wir in der Stadt gesetzt haben, gehört vor allen Dingen auch die Errichtung der »Stele der Erinnerung« an der Stätte, an der 1729/30 die zweite Offenbacher Synagoge errichtet wurde und die bis 1916 das religiöse, kulturelle und soziale Zentrum der Israelitischen Religionsgemeinde Offenbach war. Etwa zur gleichen Zeit, als wir darangingen, diese Bronzestele zu errichten, wollte der Inhaber des Geschäftshauses, das seit Langem in Betrieb war und sich in den Gebäuderesten der ehemaligen Synagoge befand, die Fassade des Geschäftshauses sanieren und renovieren.

Bei den Vorarbeiten dazu wurde die Ostwand der ehemaligen Synagoge sichtbar. Dankenswerterweise wurde mithilfe der Stadt Offenbach die Fassade freigelegt und saniert. Insofern war der Stelenstandort passend zu der Freilegung der historischen Synagogenwand – als Zusammenspiel zwischen einem Kunstwerk in einer unscheinbaren Nebengasse und einem beeindruckenden historischen Baurelikt aus der Zeit des frühen 18. Jahrhunderts.
In den kommenden Jahren gibt es für uns noch einiges zu publizieren. Denn 2020 wird die Dienemann/Formstecher Gesellschaft Offenbach 25 Jahre alt – und wir wollen auch weiterhin einen Beitrag zur Rekonstruktion der geistigen Gestalt des deutschen Judentums leisten.

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