Bräuche

Schläge vor dem Fest

Mancherorts sind an Erew Jom Kippur auch heute noch »Malkot« mit Gurt oder Riemen üblich. Foto: Flash 90

Obwohl Jom Kippur für viele zweifellos den heiligsten Tag und den Höhepunkt des Jahres darstellt, hat Erew Jom Kippur, also der Vorabend von Jom Kippur, seine ganz eigene Bedeutung, die durch die Erfüllung bestimmter Bräuche und Gebote zum Ausdruck gebracht wird.

Es wird empfohlen, an Erew Jom Kippur vermehrt Zedaka zu üben, also Almosen für Bedürftige zu geben, denn es steht geschrieben, dass Zedaka vom Tod errettet. So könnte diese gute Tat für den einen oder anderen die letzte Rettung vor der endgültigen Urteilsverkündung sein, die Jom Kippur darstellt.

Es ist ebenfalls ratsam, die Mitmenschen, denen man während des Jahres Unrecht getan hat, um Verzeihung zu bitten. Denn an Jom Kippur selbst werden von G’tt ausschließlich Sünden verziehen, die sich gegen Ihn richteten, jedoch nicht Missetaten, die wir gegen unsere Mitmenschen verübt haben. Diese bleiben »an uns hängen«, bis diejenigen von uns, die wir verletzt haben, uns verzeihen.

Kapparot Viele Juden gehen an Erew Jom Kippur zudem in die Mikwe. An diesem heiligen Tag, an dem wir, wie es heißt, den Engeln gleichen, wollen wir rein vor dem Allmächtigen erscheinen. Ein weit verbreiteter Brauch sind auch die »Kapparot«, also ein Huhn als Zeichen der Sühne über den Kopf zu schleudern.

Es gibt aber auch ein sehr interessantes Gebot, das sich über den gesamten Tag bis Erew Jom Kippur erstreckt – nämlich zu essen! Dieses Gebot wird direkt aus der Tora abgeleitet, und zwar aus der Stelle, an der uns geboten wird, an Jom Kippur selbst zu fasten. Im 3. Buch Mose 23,32 steht, dass wir am Abend des neunten Tags des Monats Tischri unsere Seele kasteien sollen.

Wissend, dass Jom Kippur am zehnten und nicht am neunten des Monats ist, erscheint dieser Satz zunächst irritierend. Aus dieser Stelle leiten unsere Weisen im Talmudtraktat Berachot 8b ab, dass demjenigen, der am neunten Tag des Monats isst und trinkt und am zehnten des Monats fastet, seine Taten so angerechnet werden, als ob er zwei Tage gefastet hätte. Es gibt viele Erklärungen, wieso die Tora die Mizwa, am neunten Tischri zu essen und zu trinken, nicht explizit erwähnt. Rabbiner David Halevy, der »Taz«, schreibt beispielsweise, dass der Grund für die nicht explizite Erwähnung die Befürchtung ist, dass wir uns ansonsten so sehr diesem Gebot hingeben würden, dass wir dann bis die Nacht von Jom Kippur essen würden (Orach Chaim, 604).

Talmud Es gibt unterschiedliche Erklärungsversuche, die sich interessanterweise zum Teil widersprechen, was der Grund für dieses Gebot ist. So schreibt Raschi in seinem Kommentar zur oben genannten Talmudstelle, dass die vermehrte Nahrungsaufnahme am Vortag des Fastentages das Fasten am Tag danach erleichtern und helfen könnte, den Tag ohne gesundheitliche Komplikationen zu überstehen.

In Schibolej Haleket (307) hingegen finden wir die Auffassung, dass übermäßiger Verzehr von Nahrung am Vortag uns das Fasten am nächsten Tag erschweren soll. Nichtsdestotrotz ist es selbstverständlich, dass obsessives und unkontrolliertes Essen nicht empfehlenswert ist, denn dieses würde sicherlich die Atmosphäre des Tages beschädigen – so zu finden in Elija Rabba (563,1). Es gibt aber auch keine Pflicht, dafür zu sorgen, dass man an Jom Kippur selbst großen Hunger verspürt – so heißt es in Kaf Hachaim (549,11).

brotmahlzeit Viele wissen nicht, dass Jom Kippur im Grunde ein Tag der Freude ist. Denn es ist der Tag, der vom Allmächtigen ausgesucht wurde, um uns unsere Sünden zu verzeihen. Und so schreibt Rabejnu Jona in Schaarej Teschuwa (4,8): Da wir an Jom Kippur selbst keine Möglichkeit haben, eine festliche Mahlzeit zu gestalten (wie an den anderen Feiertagen üblich), wird diese Mahlzeit auf Erew Jom Kippur verschoben, um unsere Freude über einen solch außergewöhnlichen Tag zum Ausdruck zu bringen.

Insofern hat die Erew-Jom-Kippur-Mahlzeit einen Status von »Seudat Mizwa«. Und obwohl man wenigstens eine (idealerweise zwei) Brotmahlzeit am Vortag von Jom Kippur abhalten soll, schreiben viele Kommentatoren, dass die Mizwa zu essen sich durch den gesamten Tag zieht und alle Kleinigkeiten und Snacks wie Kekse und Bonbons einschließt – so etwa Ktaw Sofer (114).

Es gibt einen weiteren interessanten Brauch für den Erew Jom Kippur, der zwar heute weniger verbreitet ist, in manchen Gemeinden jedoch immer noch existiert – und zwar, sich symbolisch Schlägen zu unterwerfen (Orach Chaim 607,6). Der Ursprung dieses Brauchs ist, dass es früher als Bestrafung für die meisten Vergehen gegen die Tora 39 Malkot (Peitschenschläge) gab.

Da heute diese Bestrafung selbstverständlich nicht mehr existiert, entscheiden sich viele – als ein Zeichen der Reue für die von ihnen während des Jahres begangenen Sünden –, diese Strafe symbolisch auf sich zu nehmen. Manche Kommentatoren (Bet Josef, Orach Chaim 607) schreiben, dass die Malkot eine Art der Sühne für die begangenen Sünden darstellen. Rabbiner Jakob ben Ascher, der »Tur«, ist der Ansicht, dass die Malkot in der Synagoge »verpasst« werden sollen. Manche Juden wiederum pflegen den Brauch, 39-mal in der Mikwe unterzutauchen, um der 39 Malkot zu gedenken, die von einem Beit Din für einen Sünder veranlasst wurden (Kaf Hachaim).

Ledergürtel Es gibt verschiedene Traditionen, wie genau die Malkot verpasst werden, und was man dabei sagt. Jeder Riemen oder Gurt darf dafür verwendet werden, doch normalerweise wird ein gewöhnlicher Ledergürtel benutzt. Man darf nicht vergessen, dass die ganze Aktion rein symbolischer Natur ist. Somit darf der »Schlagende« keine Kraft anwenden, denn er darf dem Empfänger unter keinen Umständen Schmerzen bereiten. Ein Sohn soll seinem Vater keine Malkot verpassen, genauso wenig wie ein Schüler seinem Rabbiner – es sei denn, sie haben spezifische Anweisungen erhalten.

In manchen sefardischen Gemeinden gibt es den Brauch, symbolisch die vier Arten der Todesstrafe aus der Tora darzustellen. So werden beispielsweise für »Srefa« (Verbrennung) ein paar Tröpfchen heißen Wachses auf die Hand gegossen.
Manche Kommentatoren widersprechen vehement dieser Art von Bräuchen und sehen darin einen direkten Widerspruch zu den oben genannten Ausführungen, nämlich dass Erew Jom Kippur ein fröhlicher Tag sein soll. Somit sollte man sich an diesem Tag nicht mit traurigen Dingen wie Bestrafung beschäftigen.

Jedoch wird aus den Bräuchen von Erew Jom Kippur die Dualität dieses besonderen Tages klar ersichtlich – nämlich die Freude und Fröhlichkeit über die Verzeihung unserer Sünden, aber auch die besinnlichen und detaillierten Vorbereitungen für diesen ernsten und heiligen Tag.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Osnabrück und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland.

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