Rosch Haschana

Neujahr im Herbst

Warum es in der jüdischen Tradition mehr als einen Jahresanfang gibt

von Rabbiner Jaron Engelmayer  04.09.2018 09:14 Uhr

Schana towa und Le Chaim Foto: Getty Images / istock

Warum es in der jüdischen Tradition mehr als einen Jahresanfang gibt

von Rabbiner Jaron Engelmayer  04.09.2018 09:14 Uhr

Die Teilnehmer schauten mich leicht irritiert an, als ich mitten im Sommer einen Vortrag mit dem Gruß »Schana towa!« – »Ein gutes Neues Jahr!« begann. Es war Schabbatnachmittag, Rosch Chodesch Elul. Wieso »Schana towa«?

Weil der Monatsbeginn des Elul als einer der vier Jahresanfänge in der Mischna (Rosch Haschana 1,1) genannt wird: der 1. Nissan für die Könige (die Zählung ihrer Regierungsjahre) und die Feiertage (ihre Reihenfolge, beginnend mit Pessach); der 1. Elul für das Verzehnten der in diesem Jahr geborenen Tiere; der 1. Tischri für den Schmitta-Zyklus und die Pflanzen betreffende Gesetze sowie der 15. Schwat für Bäume (Tu Bischwat).

Silvester In meiner Kindheit wurde der 31. Dezember gefeiert, mit Dinner for One (obligatorisch!) und einem Gläschen Eierlikör. Als ich jedoch in der Jeschiwa zu lernen begann und die Hintergründe der Jahresanfänge erforschte, beschloss ich, dass vier Mal Neujahr ausreichen.

In diesen Tagen feiern wir unser prominentestes Neujahr, Rosch Haschana, am 1. Tischri. Drei Umständen ist es wohl zu verdanken, dass dieses Neujahr zu einer Sonderstellung kam: Es wird in der Tora als vorgeschriebener Feiertag festgehalten, wenn auch ohne Angabe einer Begründung, und als erster Tag des siebenten Monats beschrieben. Die Mischna und der Talmud nennen diesen Tag als Tag des Gerichts, wenn auch als einen unter insgesamt vier solchen Zeitpunkten.

Und der Überlieferung nach wurde an diesem Tag mit dem sechsten Tag der Schöpfung und der Erschaffung des Menschen die Welterschaffung vollendet. Auch dieser Punkt ist umstritten; es handelt sich um eine Streitfrage der Mischna-Gelehrten Rabbi Jehoschua und Rabbi Elieser, ob dies am 1. Tischri oder am 1. Nissan stattfand (bab. Talmud Rosch Haschana 10b–11a).

Welche Bewandtnis hat es damit auf sich, ob die Welt im Nissan (Frühling) oder im Tischri (Herbst) erschaffen wurde? Der Talmud (Taanit 29a, Arachin 11b) prägt den Satz, dass Gutes (»Verdienst«) an guten Tagen und Schlechtes (»Schuld«) an schlechten Tagen herbeigeführt wird. In dieser Aussage liegt eine besondere Auffassung der Zeit: Jeder Tag hat seinen Charakter und ist für gewisse Dinge speziell geeignet. Dies übt einen direkten Einfluss auf die Realität aus!

Zyklus Um die tiefere Bedeutung der Zeit und ihres Einflusses auf uns zu erfassen, lohnt es sich, einen Blick auf die Kalender zu werfen: Der muslimische Kalender orientiert sich am Mond. Ein Mondmonat, gemäß der Umrundung des Mondes um die Erde, beträgt etwa 29,5 Tage, also 29/30 Tage. Da zwölf Monate gut 354 Tage ergeben, fehlen gegenüber dem Sonnenjahr etwa elf Tage. Das christliche Jahr orientiert sich am Zyklus der Sonne – 365 Tage des Sonnenjahres werden durch zwölf geteilt, sodass für jeden Monat 30/31 Tage zugeteilt sind. Der Februar erhält die übrig gebliebenen 28 Tage, in einem Schaltjahr entfallen auf ihn 29 Tage.

Der jüdische Kalender verbindet die beiden Himmelskörper: Die Monatslänge orientiert sich an der Mondumrundung, gleichzeitig werden aber auch das Sonnenjahr und die Jahreszeiten berücksichtigt. Dies geschieht mit einem ausgleichenden 13. Monat, Adar II.

In der Zeit selbst ruht eine gewisse Heiligkeit, wie wir dem Wortlaut der Festtagsgebete entnehmen können: »Gelobt seist Du, Ewiger, der Jisrael und die Zeiten heiligt.« Erstaunlich ist auch die Tatsache, dass diese Heiligkeit nicht vom Himmel beschlossen wird, sondern dem Volk Jisrael übergeben wurde, das durch den Beschluss des Sanhedrin (Oberster Gerichtshof) bestimmt, wann ein Monat beginnt, und somit, wann die Heiligkeit der Feiertage eintritt.

Zeit besitzt also Heiligkeit und Inhalt, welche einen Einfluss auf unsere Realität ausüben. Kehren wir zur Diskussion zurück, ob die Welt im Monat Nissan oder Tischri erschaffen wurde. Beide Monate sind Ausdruck der g’ttlichen Führung der Welt und der Art der Offenbarung G’ttes in ihr. Der Nissan ist vom absoluten und beschlossenen g’ttlichen Plan geprägt. G’tt führt und lenkt die Welt gemäß seinem festen und unverrückbaren Beschluss, während dem Menschen die Möglichkeit, sich in diese Führung einzumischen und auf die Schöpfung Einfluss zu nehmen, verwehrt ist.

Pessachfest Die besonderen Ereignisse dieses Monats zeugen von dieser Führung: Der Abstieg nach Ägypten und der Auszug daraus wurden schon Jahrhunderte zuvor Abraham als unverrückbare Tatsachen offenbart (1. Buch Mose 15,13). Dementsprechend geht es bei den Traditionen des Pessachfestes hauptsächlich um Erinnerung und Erzählung; denn des Menschen Aufgabe in diesem Monat ist es, die Offenbarung der Größe und Stärke G’ttes zu preisen und zu übermitteln.

Auch der Frühling steht ganz im Zeichen dieser g’ttlichen Führung: Alles blüht auf, die Bäume sind mit Früchten beladen, in den Feldern steht das volle Getreide; der Mensch muss nur noch ernten und vom Gut, das ihm die Natur und der Himmel zukommen lassen, genießen und dafür danken.

Im Gegensatz dazu steht der Monat Tischri: Während dieser Zeit gibt G’tt dem Menschen die Möglichkeit und die Mittel, aktiv auf die Welt Einfluss auszuüben und sie zu verändern. G’tt ist König der Welt und führt sie, aber auch der Mensch kann in ihr wirken und sie mit seinen Taten, Reden und Gedanken aufbauen oder zerstören.

Aussaat Er kann mit Umkehr und Reue korrigieren und sein Schicksal verändern; der Ewige ist ihm nahe und hört seine Gebete.Tischri ist im Herbst: Die Bäume werden kahl, die Schöpfung geht in den Zustand des Schlummers und der Erwartung über. Der Mensch ist mit der Bearbeitung des Bodens und der Aussaat beschäftigt und beteiligt sich tatkräftig am Wachstum des kommenden Jahres. In diesem Monat wird für den Regen des Jahres gebetet, denn in diesem Monat kann der Mensch die Realität beeinflussen.

Die spezielle Führung des Nissans weitet sich über das Sommerhalbjahr bis zum Elul aus und ebenso die Führung des Tischris über das Winterhalbjahr bis zum Adar, wobei Elul und Adar bereits als Vorbereitung für das kommende Halbjahr gelten dürfen. In den Herbst- und Wintermonaten steht die »Midat HaRachamim« im Vordergrund, die g’ttliche Führung der Welt nach Maßstäben des Erbarmens.

Der Mensch hat seinen aktiven Platz und seine beitragende Aufgabe im System. In den Frühlings- und Sommermonaten dagegen dominiert die »Midat HaDin«, die g’ttliche Führung der Welt nach strengen Maßstäben. Der absolute und exklusive g’ttliche Plan hat das Sagen.

Bundestafeln Auch die Bundestafeln unterliegen dieser Einteilung: Die ersten Tafeln wurden im Nissan-Halbjahr, mitten im Sommer am Schawuotfest, mit großem Getöse von oben herab gegeben, als g’ttlicher Beschluss und himmlische Tatsache. Diese Tafeln zerbrachen. Die zweiten jedoch erreichten das Volk Jisrael kraft der Umkehr und Reue über die Sünde des Goldenen Kalbs und wurden an Jom Kippur im Monat Tischri (bab. Talmud Taanit 30b) still und leise vom Berg Sinai heruntergebracht und übergeben.

Diese Tafeln hatten Bestand. Die wirkliche Streitfrage über die Erschaffung der Welt im Nissan oder Tischri geht also um den Platz des Menschen im g’ttlichen System: Ist er im Wesentlichen dazu erschaffen worden, G’ttes Größe zu erkennen und zu preisen (Nissan), oder um an der Welt mitzuwirken und das g’ttliche Werk physisch und spirituell tatkräftig zu vollenden?


Der Autor ist Rabbiner in Israel.

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