Grossbritannien

In Hass verstrickt

Immer mehr Enthüllungen um Labour-Chef Jeremy Corbyn bringen Antisemitismus ans Licht

von Daniel Zylbersztajn  21.08.2018 09:33 Uhr

Traf sich vor wenigen Jahren mehrmals mit palästinensischen Terroristen: Labour-Chef Jeremy Corbyn Foto: Getty Images

Immer mehr Enthüllungen um Labour-Chef Jeremy Corbyn bringen Antisemitismus ans Licht

von Daniel Zylbersztajn  21.08.2018 09:33 Uhr

Wir sammelten uns am Friedhof am Hang über den Dörfern und gingen hin­unter zur Stadt und zum schönen blauen Mittelmeer, wo 1985 israelische Jets donnerten, um das umgesiedelte Hauptquartier der PLO zu bombardieren, mit vielen Toten.» So schrieb Jeremy Corbyn 2014 im ehemaligen kommunistischen Parteiblatt «Morning Star» über einen Besuch in Tunesien.

Corbyn war damals linker Labour-Hin­terbänkler und Schirmherr der britischen Palästina-Solidaritätsbewegung. Er schrieb von einer «Kranzniederlegung an den Gräbern der Toten jenes Tages und an den Gräbern anderer, die von Mossad-Agenten in Paris 1991 getötet wurden».

Jetzt, vier Jahre nach der Tunesien-Reise, wird jener Friedhofsbesuch dem heutigen Labour-Chef zum Verhängnis. Denn in seinem Engagement für die palästinensische Sache verkehrte er mit Menschen, deren Namen in unmittelbarem Zusammenhang mit Terrorismus stehen.

Britische Medien wie die Zeitung «Daily Mail» wollen anhand von Fotos beweisen, dass Corbyn 2014 an einer Kranzniederlegung für Mitglieder der Terrororganisation «Schwarzer September» teilnahm. Diese waren für das Attentat auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1972 in München verantwortlich.

Der Labour-Chef wiegelt ab. Er sei auf dem Friedhof gewesen, um der Opfer des israelischen Bombenangriffs auf die PLO-Zentrale in Tunis zu gedenken. Er habe die Zusammenhänge nicht gekannt: Weder habe er gewusst, wer da außerdem begraben liegt, noch, wer neben ihm stand – nämlich der Chef der «Volksfront zur Befreiung Palästinas», einer Terrororganisation, die für zahlreiche Anschläge verantwortlich ist, wie den auf die Kehilat-Bnei-Torah-Synagoge in Jerusalem 2014. Auf einem anderen Foto steht Corbyn neben Fatima Bernawi, die 1967 in einem Jerusalemer Kino eine Bombe legte.

Entschuldigung Diese Enthüllungen kamen, nachdem Corbyn erst wenige Tage zuvor versucht hatte, sich öffentlich zu erklären: «Ich stand in der Vergangenheit in meinem Bestreben für Gerechtigkeit und Frieden in Israel/Palästina gelegentlich mit Menschen auf der Bühne, deren Ansichten ich vollkommen verwerfe. Ich entschuldige mich für die Bedenken und die Angst, die dies ausgelöst hat.»

Doch diesmal kam die Kritik nicht nur vom Board of Deputies, dem britisch-jüdischen Dachverband, und nicht nur, wie zu erwarten, von Ankie Spitzer und Ilana Romano, den Witwen der ermordeten israelischen Olympiateilnehmer, sondern auch von Benjamin Netanjahu. «Das verdient eine eindeutige Verurteilung von allen – links, rechts und dazwischen», schrieb der israelische Premier in einem Tweet.

Zwei Stunden später kam Corbyns Antwort. Er verwies auf die 160 Opfer der letzten Aktionen der israelischen Streitkräfte in Gaza und erklärte sich mit den 10.000 Israelis und Arabern solidarisch, die Tage zuvor in Tel Aviv gegen das Natio­nalstaatsgesetz demonstriert hatten.

Die Medien jedoch ließen sich durch diese gegenüberstellende Relativierung nicht abwimmeln, auch nicht, nachdem einige Labour-Politiker behaupteten, die Täter von München lägen in Libyen begraben und nicht in Tunesien.

Corbyn insistierte weiter, er habe nicht gewusst, dass damals auf dem Friedhof Terroristen neben ihm standen und dass es Gräber von Mitgliedern des «Schwarzen September» waren. Er verabscheue Gewalt.

Viele britische Kommentatoren sehen es nun wie Rod Liddle, der im konservativen Wochenmagazin «Spectator» schrieb: «Corbyn ist entweder eine düstere Gestalt oder ein vollkommener Idiot.» Sein Kollege Damian Reilly schrieb in demselben Magazin: Corbyn sei «kein Antisemit, er hat eben oft kein Glück».

Es vergingen nur wenige Tage, und der «Daily Telegraph» wurde fündig. Diesmal war es Corbyns Teilnahme an einem Kongress in Katar 2012. Dort traf er sich mit Hamas-Offiziellen wie Husam Badran und Abdul Aziz Umar. Beide saßen wegen ihrer Beteiligung an Terroranschlägen, die fast 100 Menschenleben gekostet hatten, jahrelang in israelischen Gefängnissen. Erst im Gegenzug für die Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Schalit wurden sie 2011 auf freien Fuß gesetzt.

Badran ist verantwortlich für die Selbstmordanschläge auf die Dolphinarium-Dis­kothek in Tel Aviv und das Restaurant «Sbarro» in Jerusalem 2001, den Anschlag auf das Park-Hotel in Netanya und das Res­taurant «Matza» in Haifa 2002.

Azis Umar, den Corbyn später als «Bruder» bezeichnete, hatte einem Selbstmordattentäter vor dem Anschlag auf das Café «Hillel» 2003 in Jerusalem geholfen.

Leitartikel Corbyns Treffen mit den Terroristen wurden bekannt, nachdem Labour monatelang wegen Antisemitismus in den eigenen Reihen kritisiert worden war. Auf einem vorläufigen Höhepunkt machten Ende Juli drei britisch-jüdische Zeitungen ihre Leitartikel mit derselben Überschrift auf. Der «Jewish Telegraph», die «Jewish Chronicle» und die «Jewish News» titelten «United we stand» («Wir stehen zusammen») und erhoben schwere Vorwürfe gegen den Labour-Chef.

Bereits im März hatten jüdische Organisationen vor dem Parlament gegen Labours Antisemitismus protestiert. Einer der aktuellen Hauptstreitpunkte ist Labours Beschluss vom Juli, die international weit anerkannte Antisemitismusdefinition der International Holo­­caust Remembrance Alliance (IHRA) durch eine eigene zu ersetzen. Demnach wird israelbezogener Antisemitismus bei Labour nicht ohne Weiteres als solcher anerkannt.

Nach all den Querelen beklagen inzwischen zahlreiche Parteimitglieder, dass die Diskussion über Antisemitismus schon viel zu lange dauere und Labour davon abhalte, die eigentlichen Themen anzusprechen wie soziale Ungleichheit. Mehrere Gewerkschaften sowie der jüdische Politiker Jon Lansman, Gründer der Labour-Gruppe «Momentum», die Corbyn direkt unterstützt, stellen sich nun hinter die IHRA-Definition.

Interessant ist dabei, dass die zweitgrößte Gewerkschaft Großbritanniens all dem ihren Segen gibt. Ihr Vorsitzender Len McCluskey hatte noch Monate zuvor Antisemitismus in der Arbeiterpartei abgestritten. Auch jetzt be­hauptet er in einem Bericht in der «Huffington Post», das Thema werde mit «wenig Beweismaterial» ausgenutzt, um die Richtung der Partei zu ändern oder sie gar zu spalten. Die jüdische Gemeinschaft hätte Entschuldigungen für antisemitische Vorkommnisse in der Partei verlangt und diese auch erhalten. Darüber hinaus habe Corbyn die Bindung britischer Juden zu Israel anerkannt und um mehr Verständnis und Empathie für Juden und ihr Schicksaal gebeten.

McCluskey empfiehlt nun zwar die Annahme der IHRA-Definition, doch im gleichen Atemzug beschuldigt er die jüdische Gemeinschaft, Labour gegenüber feindselig eingestellt zu sein und den Dialog zu verweigern.

Am Wochenende verabschiedete nun auch Labours Studentenbewegung die IHRA-Definition. Beim Parteikongress An­­fang September sollen einige Entscheidungen fallen, möglicherweise auch über die Zukunft von Jeremy Corbyn.

Militanz Jüdische Briten betrachten die Labour-Affäre mit gemischten Gefühlen. Justyn Trenner (53), der früher Mitglied der jüdischen Arbeiterbewegung war, erinnert sich an eine Begegnung mit Corbyn in den 80er-Jahren. Trenner setzte sich damals als Student für die Juden in der Sowjetunion ein und begegnete Corbyn zufällig im Parlament. «Ich kann mich nicht mehr an den Wortlaut erinnern, doch Corbyn erschien mir krude und unangenehm, und ich verließ das Parlament mit dem Gefühl, dass er vielleicht antisemitisch sei.»

Danach beobachtete Trenner über viele Jahre hinweg, dass Corbyn immer wieder mit gewalttätigen revolutionären Militan­ten zusammensaß – nicht nur palästinensischen, sondern auch nordirischen. Sollte Corbyn nach den nächsten Wahlen Premierminister werden, wird Trenner mit seiner Familie Großbritannien verlassen.

Für Trenner kann nur eines die Situation Labours ändern: ein neuer Parteichef, und zwar aus dem demokratisch-sozialistischen statt aus dem revolutionären Lager.

Sicherheit Michelle Goldsmiths (52), Labour-Mitglied aus London, nahm im März vor dem Parlament an der Demo gegen den Antisemitismus in Labour teil. «Ich bin im Grunde links», sagt die Lehrerin. Sie setzt sich für eine verbesserte soziale Infrastruktur des Landes ein und kämpft für die Rechte von Migranten. Goldsmiths versucht, Labour und Corbyn gedanklich voneinander zu trennen.

«Als Partei an und für sich garantiert Labour Juden Sicherheit. Es gibt beispielsweise kein Bestreben, das Schächten zu begrenzen, und Labour steht im Nahostkonflikt stark hinter der Zweistaatenlösung.» Goldsmiths glaubt, dass die Feindseligkeit gegenüber Corbyn nicht allein mit dem Antisemitismus erklärt werden könne, sondern auch wirtschaftlich bedingt ist: «Labour will alle, die mehr als 70.000 Pfund verdienen, stark besteuern.»

Sie hält die Angst in der jüdischen Gemeinschaft mit dem Argument einer «existenziellen Gefahr» für überzogen. «Wenn wir schon über existenzielle Gefahr sprechen, wieso hat dann kein Jude vor dem Parlament demonstriert, als die Konservativen den Atomdeal mit Iran absegneten, einem Deal, den Netanjahu ausdrücklich als Gefahr für Israel bezeichnete?», fragt sie.

«Corbyn», da ist sich Goldsmiths sicher, «ist eine Gefahr für die nationale Sicherheit. Und mit seinen Ansichten kann er in Großbritannien keine Wahl gewinnen.» Wie Justyn Trenner meint auch sie, Labour sollte sich von Corbyn befreien.

Leah Levane (63) sieht die Dinge ein wenig anders. Die Labour-Stadträtin aus dem südenglischen Hastings stammt aus einer jüdischen Familie, die der Labour-Partei seit Generationen nahesteht. In den 70er-Jahren trat sie in die Partei ein und in den 80er-Jahren wieder aus, weil aus ihrer Sicht nicht genug für die Bergbauarbeiter getan wurde.

Facebook Erst Corbyn lockte Levane wieder in die Arbeiterpartei, «weil er gegen Armut und Privatisierungen eintrat, faire Steuern forderte, aber auch, weil er sich gegen den Irakkrieg einsetzte sowie gegen Apartheid – und für die Palästinenser». Levane sagt, sie habe längere Zeit in den besetzten Gebieten unter Palästinensern gelebt. Das habe sie geprägt. Aus einer Facebook-Gruppe, «Juden für Corbyn», entstand im vergangenen Herbst eine neue Gruppe namens «Jüdische Stimmen für Labour» (JVL). «Wir hatten genug davon, dass Corbyn nur negativ dargestellt wurde.»

Levane bestreitet nicht, dass es in der Partei Antisemitismus gibt, «aber es ist nicht mehr als im gesellschaftlichen Durchschnitt». Während der britisch-jüdische Dachverband eine Entschuldigung für Corbyns Auftritt in Tunesien verlangt, meint Levane, der Labour-Chef habe sich «in letzter Zeit genug entschuldigt». Er sei, weiß Gott, kein Messias, aber man halte ihm dauernd vor, was er vor Jahren getan habe, als er noch Hinterbänkler war, ärgert sich Levane. Doch seit er Labour-Chef sei, betont sie, habe er beispielsweise seine Funktion in der palästinensischen Solidaritätsbewegung eingestellt. Doch glaubt sie, dass man auch in den nächsten Monaten weiter in Corbyns Vergangenheit graben wird, um ihn zu entthronen.

Levane steht mit ihrer Meinung nicht allein. Links der jüdischen Arbeiterbewegung repräsentiert sie einen kleinen, jedoch sehr lauten Rand innerhalb der jüdischen Labour-Gemeinde und der jüdischen Gemeinschaft allgemein.

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